Karel Vodička: Die Prager Botschaftsflüchtlinge 1989. Geschichte und Dokumente (= Berichte und Studien; Nr. 67), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 453 S., ISBN 978-3-8471-0345-5, EUR 39,99
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Wenige zeithistorische Veröffentlichungen dürften zurzeit mehr Bezüge zur europäischen Tagespolitik herstellen wie Karel Vodičkas Buch über die Prager Botschaftsflüchtlinge. 1989 bezeichnete Hans-Dietrich Genscher den Flüchtlingsstrom Richtung Westen als "Urstrom der Geschichte". In ähnlicher Weise dürfte die derzeitige Migrationswelle aus Syrien, Irak, Afghanistan und anderen Ländern nach Europa gewürdigt werden. So scheinen die Grenzen zwischen unserer europäischen Vergangenheit und Gegenwart bei der Lektüre des Buches zu verschwimmen - auch wenn dies, als der Band entstand, vermutlich noch nicht absehbar war.
Nicht nur der offensichtliche Bezug zur derzeitigen europäischen Flüchtlingssituation stellt eine Besonderheit des Buches dar, sondern ebenso seine Gestaltung. Im Zentrum steht die chronologische Darstellung der Ereignisse um die Prager Botschaftsflüchtlinge, aber auch der ostdeutschen und tschechischen politischen Entwicklung zwischen der Silvesternacht 1988/89 und dem 29. Dezember 1989. Vodička bedient sich für diesen Teil einer tagebuchartigen Textform. Unter knappen Überschriften - "Ostberlin, Staatsoper, 17:20 Uhr, Zustimmung zur Ausreise" (102), "Prag, Sitz des Ministerpräsidenten der ČSSR, 22:40 Uhr, sofortiges Handeln erforderlich!" (139) - lässt er zentrale Akteure in Ost-Berlin, Bonn, Prag, Moskau und New York zu Wort kommen. Die kurzen Einträge im historischen Präsens spiegeln die Dringlichkeit, ja die Dramatik der Situation in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland aus unterschiedlichen Blickwinkeln wider und sorgen für Spannung.
Eingerahmt wird diese zentrale Chronologie von eher allgemeinen Darstellungen zur politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Situation in der DDR und der ČSSR "ab Mitte der 1970er Jahre" (21) sowie kurz "vor der Implosion der Regime" (249). Ergänzend finden sich Reflexionen des Prager Oppositionellen Petr Pithart, ein Aufsatz zu gescheiterten Fluchtversuchen an den Staatsgrenzen der ČSSR und der DDR, ein umfangreicher Anhang mit 73 Dokumenten sowie, einleitend, Auszüge aus Genschers Erinnerungen.
Vodička präsentiert im zentralen Teil des Buches nicht nur bekannte Erkenntnisse. Basierend auf den von ihm genutzten Quellen, auch aus tschechischen Archiven, kann er die Überlegungen vor allem der Prager Seite pointiert nachzeichnen. Maßgeblich für die in Ost-Berlin kurzfristig getroffene Entscheidung, die Botschaftsflüchtlinge ausreisen zu lassen, war demnach der von Prag aufgebaute Druck auf die SED-Genossen. So habe die KPČ befürchtet, die dramatische Lage in der Botschaft der Bundesrepublik - in der zu diesem Zeitpunkt Tausende Menschen warteten - könne unerwünschte Auswirkungen auf die innenpolitische Situation haben. Massendemonstrationen waren nicht auszuschließen; die Lage war von den "vor Ort befindlichen Sicherheitskräften nicht mehr länger [zu] kontrollieren" (130f.). Die KPČ-Parteispitze habe daher die DDR-Führung "ultimativ" zum Handeln aufgefordert (131). Noch am selben Tag, dem 3. Oktober 1989, stimmte Ost-Berlin der Lösung der Flüchtlingskrise in der Botschaft zu. Als die versprochene Reaktion jedoch nicht unmittelbar erfolgte, drängte Prag erneut. Der DDR-Außenminister notierte für Erich Honecker, die ČSSR wolle wissen: "Was ist los?" (139). Für viele Beteiligte, die Flüchtenden voran, ließ der Druck erst nach, als sie die Bundesrepublik in Sonderzügen erreichten. Im Bahnhof Hof, kurz nach der innerdeutschen Grenze, erschallte am frühen Morgen des 5. Oktober der erleichterte Ruf "Freiheit, Freiheit!" (154).
Die verschiedenen Texte und Buchabschnitte sind für sich genommen sehr lesenswert - und auch die Komposition hat ihren Reiz. Vielleicht hätte man noch mehr davon profitieren können, wenn eine Einleitung die angestrebten Verbindungen zwischen den einzelnen Teilen aus der Sicht des Autors deutlich gemacht hätte. Auffallend ist dies besonders beim Dokumententeil. Viele der Dokumente werden zwar in der zentralen Chronologie zitiert, eine stärkere Einbindung und weiterführende Verweise in den entsprechenden Fußnoten hätten aber zum Hin- und Herblättern anregen können.
Das Buch ist in jedem Fall sehr lesenswert, und zwar sowohl für ein wissenschaftliches Publikum als auch für interessierte Laien. Die Gestaltungsform des Bandes kann auch für andere Publikationen als Anregung dienen. Die neuen Erkenntnisse hinsichtlich der Motive der zentralen Akteure verdienen Beachtung. Nicht zuletzt erinnert das Buch auch an all jene, die beim Versuch, die Staatsgrenzen von ČSSR und DDR zu überwinden, getötet wurden, sowie an das Glück, sagen zu können: "Wir sind im Westen angekommen! Die Luft zum Atmen!" (381), und letztlich auch daran, dass die eigentliche Aufgabe, sich in einem neuem Leben zurecht zu finden, erst noch bewältigt werden musste.
Anja Hanisch