Andreas Rödder: Der verlorene Frieden. Vom Fall der Mauer zum neuen Ost-West-Konflikt, München: C.H.Beck 2024, 250 S., ISBN 978-3-406-82143-1, EUR 26,00
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Die Welt ist aus den Fugen geraten. Mit dem 2014 begonnenen, 2022 massiv ausgeweiteten Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist endgültig klar geworden, dass die internationale Ordnung, wie sie 1990 infolge des Zusammenbruchs des Ostblocks und der Sowjetunion entstand, nicht länger existiert. Andreas Rödder legt in seinem neuen Buch eine kluge Analyse über die Ursachen für das Scheitern dieser Ordnung vor. Es handelt sich um eine problemorientierte, prägnante Darstellung der Geschichte der internationalen Beziehungen der letzten 34 Jahre - eine in Deutschland vernachlässigte Subdisziplin der Geschichtswissenschaft, die unter den Bedingungen der Gegenwart zu Recht wieder stärker nachgefragt wird.
Infolge des annus mirabilis 1989 schien sich die liberale Ordnung des Westens, die zwischenstaatlich auf der Vorstellung souveräner und gleichrangiger Staaten, innerstaatlich auf Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft beruht, endgültig durchgesetzt zu haben. Die westlichen Zusammenschlüsse NATO und Europäische Gemeinschaft (EG, später EU) blieben bestehen, ihre östlichen Pendants einschließlich der Sowjetunion gingen unter. Während die USA ihren unipolar moment erlebten, waren Russland und China geschwächt; gleichzeitig kam es zu einem wirtschaftlichen Globalisierungsschub. Die Vorstellung von der Attraktivität der eigenen Werte verleitete den Westen in den folgenden Jahren indes zu humanitärem Interventionismus und Demokratieexport. Wenngleich schon in Somalia 1993 die Grenzen westlicher Durchsetzungsfähigkeit deutlich wurden, änderte sich an der Hybris des Westens erst einmal nichts, zumal die ostmitteleuropäischen Staaten in die NATO und die EU drängten. Rödder sieht indes nicht in der NATO-Osterweiterung den eigentlichen Grund für die Verbitterung Russlands, sondern generell in dessen als schmerzhaft empfundenem Bedeutungsverlust. Der zeigte sich etwa darin, dass sich Moskau 1999 vom Westen im Kosovo-Krieg übergangen fühlte.
Russland, wo Wladimir Putin damals an die Macht kam, wurde zur "treibenden revisionistischen Kraft gegen die Ordnung von 1990" (72). Zum selben Zeitpunkt befanden sich die USA auf dem Zenit ihrer Dominanz. Als sie infolge des Attentats vom 11. September 2001 im Mittleren Osten militärisch intervenierten, zeigte sich die Kehrseite der unangefochtenen amerikanischen Stellung: Der dilettantisch vom Zaun gebrochene zweite Irak-Krieg 2003 markierte "den Gipfel- und zugleich den Wendepunkt des 'unipolaren Moments'" (83). Die folgenden Jahre bis 2008, als Russland und China einen neuen Kurs einschlugen und in antiwestlichem Ressentiment zusammenrückten, bildeten laut Rödder den "Kipppunkt der West-Ost-Beziehungen" (184). 2008 markierte "die eigentliche weltpolitische Zäsur nach 1989" (86): Zum einen wurde damals auf dem NATO-Gipfel von Bukarest von den europäischen Mächten, insbesondere Deutschland und Frankreich, entgegen dem US-amerikanischen Votum, ein NATO-Membership-Action-Plan für die Ukraine und Georgien verhindert, um Putin nicht zu provozieren. Die Schutzlosigkeit Georgiens wurde noch im selben Jahr von Russland durch einen Krieg zugunsten des abtrünnigen Südossetiens ausgenutzt. Zum anderen begann damals mit dem Zusammenbruch der Lehmann Brothers Bank die Weltfinanzkrise, die ab 2010 in die Eurokrise mündete. Mit der Finanzkrise erlitt die liberale Ordnung einen massiven Glaubwürdigkeitsverlust, während China aufgrund seines weiterhin ungebremsten Wirtschaftswachstums zunehmendes Selbstbewusstsein gegenüber dem Westen gewann.
In den 2010er Jahren hielten Krisen aller Art die westliche Welt in Atem: im Nahen Osten vielfältige Erschütterungen infolge des Arabischen Frühlings von 2011, insbesondere der Bürgerkrieg in Syrien, in der EU die Eurokrise sowie ab 2016 die Brexit-Entscheidung und, infolge des syrischen Bürgerkriegs und des Zusammenbruchs von Libyen, die Flüchtlingskrise. Im Ergebnis dieser Entwicklung war die EU weitgehend mit sich selbst beschäftigt und fiel als weltpolitischer Akteur aus. Der Westen, der auch in Afghanistan an die Grenzen seiner Macht stieß, geriet damit weltweit in die Defensive.
Im Osten hingegen wandte sich Putin ab 2012 offen gegen den Westen; gleichzeitig erfolgte eine Annäherung an den chinesischen Nachbarn unter Xi Jinping. Beide, so Rödder, waren sich einig in der "Ablehnung von innenpolitischem Dissens, westlicher Demokratie sowie amerikanischer Dominanz" (125) und bildeten fortan eine "Achse der Revisionisten" (126). Gegen das liberale Ordnungsmodell des Westens setzten Putin und Xi, Rödder zufolge, ein imperiales Modell, das in Großräumen bzw. Interessensphären dachte, in denen eine Vormacht herrschte und raumfremde Mächte ausschloss. Verbunden wurde dies mit dem Willen zur Revision der US-amerikanisch dominierten Weltordnung. Als Russland mit der Besetzung der Krim 2014 und der anschließenden Proklamation der sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk nur auf verhaltenen Widerstand des Westens stieß, der zwar wirtschaftliche Sanktionen verhängte, aber mit den Abkommen von Minsk lediglich versuchte, den Konflikt einzufrieren, und seine energiepolitische Abhängigkeit von Russland verstärkte, legte dies Putin als Schwäche aus. China setzte, wie Putin, auf einen harten Autoritarismus und hegte mit Blick auf Taiwan ebenfalls Revisionsabsichten und Großmachtambitionen, die in der "Belt-and-Road-Initiative" (Neue Seidenstraße) sichtbar werden. Das Ende der Ordnung von 1990 kam Rödder zufolge nach dem überstürzten Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan 2021, der eine vollständige Revision des seit Beginn der 1990er Jahre betriebenen Demokratieexports darstellte. Ein scheinbar geschwächter Westen lud daraufhin Putin zur großen Aggression gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 ein.
Rödders Interpretation zufolge prallen heute zwei Ordnungsvorstellungen aufeinander: die liberale Ordnung des Westens und die imperiale des Ostens. Jedoch war diese Entwicklung nur scheinbar zwangsläufig: Ohne die russische Aufrüstung und das enorme chinesische Wirtschaftswachstum wäre es nicht zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse in der Weltpolitik gekommen. Hinzu kamen veränderte gegenseitige Wahrnehmungen und politische Entscheidungen, die eine Konfrontation, wie wir sie heute erleben, erst ermöglichten. Ein "moderierendes Ordnungsmanagement" (189) des Westens mit einem Beharren auf Aufrechterhaltung der zwischenstaatlichen Ordnung und einem Verzicht auf Verbreitung der liberalen inneren Ordnung hätte möglicherweise konfliktdämpfend gewirkt. Freilich geht eine solche Überlegung, wie Rödder selbst eingesteht, zu sehr von einer westlichen Perspektive aus, ohne Russland als Subjekt ernst zu nehmen. Außerdem, so wäre hinzuzufügen, wissen wir viel zu wenig über die Hintergründe und Mechanismen der Entscheidungsfindung in Putins Russland.
Grundsätzlich hat Rödder eine bestechende Analyse vorgelegt, deren Suggestivkraft man sich nur schwer entziehen kann. Fragen lässt sich allerdings, ob die russisch-chinesische Achse wirklich so festgefügt ist, wie es nach der Lektüre dieses Buches erscheint. Denn bei aller Parallelität existieren doch gravierende Unterschiede zwischen beiden Mächten. Setzt Putin vor allem auf militärische Macht, um seine Ziele zu realisieren, ist China trotz seiner erheblichen Aufrüstung und seiner Ziele gegenüber Taiwan und im südchinesischen Meer sehr viel stärker darauf bedacht, im globalen Maßstab seine Wirtschaftsmacht einzusetzen. Dabei will es nicht nur über die sogenannte Neue Seidenstraße andere Länder in Abhängigkeit bringen; als eine der führenden Wirtschaftsmächte benötigt es auch funktionierende ökonomische Beziehungen zu den westlichen Industriestaaten, mit denen es weitaus enger verflochten ist als Russland. Und das Interesse Pekings an der Aufrechterhaltung dieser Beziehungen dürfte eine eher konfliktdämpfende Wirkung haben. Russland und China sind nicht so leicht über einen Kamm zu scheren, wie es in der Studie Rödders erscheint. Insofern ist es fraglich, ob man die heutige Weltordnung wirklich als bipolar bezeichnen kann.
Hermann Wentker