Hafiz Boboyorov: Collective Identities and Patronage Networks in Southern Tajikistan (= ZEF Development Studies; Bd. 24), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2013, 296 S., ISBN 978-3-643-90382-2, EUR 34,90
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Hafiz Boboyorov hat hier eine sehr interessante und wichtige Studie vorgelegt. Nach dem verheerenden Bürgerkrieg in den Jahren von 1992 bis 1997 behielt die lokale soziale Ordnung in Tadschikistan ihre wesentliche institutionelle Prägung im Rahmen von lokalen Regierungsprozessen (governance processes) bei. Dennoch ist es natürlich zu einer schwierigen Phase der Neu- und Umorientierung gekommen. Die politischen Akteure mussten sich dabei auf kollektive Normen und Identitäten stützen, um die post-sowjetischen Entwicklungen und Veränderungen in lokale Strukturen gießen zu können. Vor diesem Hintergrund diskutiert Boboyorov die local governance in ruralen Siedlungen in der südtadschikischen Grenzregion Khatlon. Local government wird dabei in nachvollziehbarer Weise definiert als "the political organization of social order in a local context which reflects interactions of different actors through historically and culturally embedded institutions of power structures and networks" (11)
Während eines langen Feldaufenthaltes (März 2007 bis Mai 2008) hat Boboyorov Daten zur Analyse der Abläufe von lokaler Verwaltung in fünf Distrikten (Shuroobod und Mu'minobod in der Region Kulob und Shahritus, Qabodiyon und Nosiri Khusrav in der Oasenregion von Qabodiyon) gesammelt. Dabei hat er ganz bewusst Fallstudien aus unterschiedlichen sozial-ökonomischen Kontexten ausgewählt: Bergregion vs. Flachland, subsistenzwirtschaftlich vs. auf Baumwollanbau konzentriert, ethnisch homogene vs. ethnisch heterogene Gemeinschaften, elitendominierte und umstrittene vs. hierarchisch repräsentative und integrative politische Strukturen, wirklich involvierte vs. nur oberflächlich partizipierende und von außen (Staat oder internationale Organisationen) integrierte lokale Bevölkerung. Untersucht werden soll jeweils die Rolle von kollektiven Identitäten (insbesondere Verwandtschaft und Islam) bei der Formung institutioneller Figurationen in zwischenmenschlichen Interaktionen auf lokaler Ebene. Drei Funktionen von local governance stehen für den Autor im Fokus: 1. Die Bindung der lokalen Bevölkerung an ausdifferenzierte Machtstrukturen, 2. Die Legitimierung politischer und ökonomischer Ansprüche und Rechte durch individuelle Akteure, 3. Die Stabilisierung umstrittener sozial-politischer Konstellationen
Die Arbeit teilt sich in sechs Kapitel auf. Zunächst diskutiert Boboyorov seinen methodischen Zugang und skizziert sehr kundig die sozial-anthropologischen Vorgehensweisen der Feldforschung und die Ansätze der Vergleichs- und Institutionenanalyse. Aufschlussreich sind auch seine Bemerkungen zu den vielen Schwierigkeiten der Feldforschung in einer komplexen und in vielerlei Hinsicht unzugänglichen Gegend. Kap. 2 befasst sich darauf aufbauend mit den theoretischen Hinsichten. Boboyorov hat sich bestens in die relevante Literatur eingelesen und kommt vor diesem Hintergrund zu schlüssigen Definitionen der analytischen Schlüsselbegriffe local governance, social order, social institution und collective identity. Die Ausführungen dienen dem Autor auch zur Untermauerung seiner konzeptionellen Vorannahme, dass kollektive Identitäten zur Verstärkung der Institutionen der local governance und der generellen Regeln und Normen der politischen und ökonomischen Beziehungen auf lokaler Ebene dienen. Die politischen Akteure artikulieren, interpretieren, adaptieren und verändern ihre kollektiven Identitäten, um gewisse institutionelle Regeln und Praktiken zu ermöglichen bzw. zu verhindern. Boboyorov kann in seiner Arbeit letzten Endes überzeugend zeigen, dass die Akteure sich nicht immer gemäß den Annahmen der rational-choice-theory verhalten. Ihr Handeln und ihre Entscheidungen hängen sehr von den normativen Strukturen ihrer sozialen Umwelt ab. Insgesamt verbindet der Autor sehr schön das Konzept der social order mit den Ansätzen zu collective identities, nicht zuletzt dadurch, dass er stets den Zusammenhang mit Machtansprüchen sieht.
Der dritte Teil ist einer kenntnisreichen Darstellung der sozialen und politischen Situation der südtadschikischen Region Khatlon gewidmet. Zur Sprache kommen die verschiedenen Facetten des dort praktizierten Islams ebenso wie die ethnischen und verwandtschaftliche Netzwerke und Bindungen. Alle drei Faktoren sind wichtige immaterielle Mechanismen, um die politischen und wirtschaftlichen Strukturen der lokalen sozialen Ordnung aufrecht zu erhalten. Mit Kapitel 4 setzen die Fallbeispiele ein. Diskutiert werden erst einmal wichtige Aspekte von local governance in dem Hochgebirgsort Devdor im Shuroobod-Distrikt - einer Siedlung also, die nur eine kleinen Bevölkerungszahl aufweist und subsistenzwirtschaftlich ausgerichtet, ethnisch homogen, elitendominiert ist und um deren Ressourcen gestritten wird. Zudem mischen sich Entwicklungshilfeagenturen von außen in die Strukturen ein. In diesem Kapitel bespricht Boboyorov auf ausgezeichnete Weise die stabilisierende Funktion, die die gegenseitige Bezogenheit von Großfamilien und Nachbarschaften, soziale Wohlfahrtsprogramme, die Mobilisierung von Ressourcen, um das gemeine Wohlergehen zu steigern, und die Programme zur Konfliktregulierung und Entwicklungsförderung haben. Der Wettbewerb um die knappen Ressourcen ist sehr groß unter den Mitgliedern der lokalen Eliten. Die Grenzen der sozialen Ordnungen werden daher dauernd infrage gestellt und sind umkämpft. Hier geht es trotz ethnischer Homogenität um den Kampf um Einfluss, auch auf Kosten der sozialen Ordnung. Als zweites Beispiel, das in dem sich anschließenden fünften Abschnitt aufbereitet wird, geht es um das im Flachland und im Baumwollgebiet gelegene bevölkerungsreiche und ethnisch heterogene Städtchen Sayyod. Der Autor zieht hier seine Schlüsse aus der spannenden Diskussion von Erbschaftsfällen, religiösen Ansprüchen, netzwerkbasierten politischen und wirtschaftlichen Repräsentation und/oder der Mobilisierung von Ressourcen für die Baumwollwirtschaft. Es ist hochinteressant zu sehen, wie lokale Regierungsvertreter, Mullahs, Mitglieder der Ältestenräte und mahalla-Vertreter miteinander um kollektive Identitäten ringen, um Bevölkerungsgruppen um der Ordnung willen zu mobilisieren.
In dem letzten Kapitel seiner Arbeit stellt Boboyorov einige aufschlussreiche Vergleiche an. Im Falle der Gebirgsregion von Shuroobod, wo es ein sehr umstrittenes politisches und ökonomisches Umfeld gibt und wo sich Entwicklungshilfeagenturen massiv in die Gemeinschaft einmischen, dient der Bezug auf kollektive Identitäten im Rahmen von local governance zwei Aspekten: 1. Der Legitimation politischer und wirtschaftlicher Ansprüche auf wichtige Ressourcen, 2. Der Stabilisierung der innerhalb der sozialen Ordnung umkämpften Grenzen. Shuroobod ist subsistenzwirtschaftlich ausgerichtet, ethnisch homogen und es gibt nur kleine Gemeinschaften. In dem im Flachland gelegenen, ethnisch heterogenen Baumwollanbaugebiet von Shahritus benutzen die politischen Akteure, einschließlich staatlicher Instanzen und ihre lokalen Vertreter, hingegen kollektive Identitäten dazu, die "Baumwollgemeinschaften", die auf Verwandtschaftsbeziehungen und Nachbarschaftsnetzwerken beruhen, zu etablieren und zu integrieren. Im Gegensatz zu den Bergregionen stärkt die local governance hier die repräsentativen und integrativen (und dennoch hierarchischen) Strukturen der mahalla-Komitees und dehqan-Farmen. Darüber hinaus werden dadurch auch die politisch-ökonomische Gesamtsituation und die Baumwollindustrie gestärkt. Verschiedene Gruppen teilen ähnliche, sich dabei aber durchaus überlagernde institutionelle Ordnungen und Netzwerke politischer und wirtschaftlicher Kontakte. Verschiedene Personen bilden dabei Verflechtungen auf einer Patron-Klient-Basis - unabhängig von ihren ethnischen oder kommunalen Zugehörigkeiten oder staatlichen und indigenen Strukturen. Diese Patron-Klient Netzwerke beschränken sich nicht auf bestimmte Clane oder Verwandtschaftsgruppen, sondern integriert eher verschiedene Akteure unterschiedlicher Herkunft durch staatliche Strukturen, Entwicklungshilfeorganisationen, religiöse Identitäten, dehqan-Farmen oder mahalla-Komitees. Man muss den Handlungen der lokalen Eliten und ihrer Patron-Klient-Verflechtungen folgen, um die lokale Politik und die Art und Weise, wie kollektive Identitäten mobilisiert werden, zu verstehen.
Allem in allem also eine theoretisch wie methodisch bestens fundierte sozialwissenschaftliche Untersuchung, die unsere Kenntnisse der kollektiven Identitäten und Patronagenetzwerke in Süd-Taschikistan wirklich erweitert!
Stephan Conermann