Andreas Görke / Konrad Hirschler: Manuscript Notes as Documentary Sources (= Beiruter Texte und Studien; Bd. 129), Würzburg: Ergon 2012, 208 S., ISBN 978-3-89913-831-3, EUR 48,00
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Sieht man sich arabische (türkische, persische) Manuskripte einmal genau an, so fällt auf, dass die eigentlichen Texte sehr häufig von zahlreichen zusätzlichen Annotationen aller Art umgeben sind. Zu dumm nur, dass diese Ergänzungen in den allermeisten Katalogen nicht vermerkt sind, so dass man nur darauf stößt, wenn man sich die Mühe macht, jede Handschrift persönlich einzusehen. Und auch in den Editionen wird bedauerlicherweise in der Regel darauf verzichtet, dieses Material zu berücksichtigen. Dabei bilden diese Paratexte, die von ganz kurzen Vermerken über längere Anmerkungen bis hin zu Ergüssen reichen, die länger als der Ausgangstext sind, eine Einheit mit dem Basistext. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ist es daher geradezu Sünde, beide Teile in den Werkausgaben und bei der Analyse voneinander zu trennen. Inhaltlich handelt es sich in unserem kulturellen Zusammenhang um Lesevermerke (muṭālaʿa), Überlieferungserlaubnisse (samāʿ ), Lehrbefugnisse (iǧāza), Besitzernachweise (tamlīk/tamalluk), Lobpreisungen (taqārīẓ ) oder Schmähungen des Werkes, Verse der Kopisten (mit unterschiedlichem Inhalt), Stiftungseinträge (waqfīya/taḥbīs) sowie (seltener) um individuelle Fragmente wie kurze Gedichte, autobiographische Hinweise oder Beschreibung von Ereignissen. Die meisten dieser bisher recht vernachlässigten Quellen - um genau zu sein: alle außer taqārīẓ und Dichtung - sind Gegenstand des von Andreas Görke und Konrad Hirschler sorgfältig herausgegebenen Sammelbandes. Hervorgegangen ist diese Zusammenstellung hochinteressanter und fundierter Artikel, die allesamt von ausgewiesenen Spezialisten verfasst wurden, aus einem Workshop zum Thema Notes on Manuscripts in Islamic Studies: State of the Art and Future Research Perspectives, den die Herausgeber an der Universität Kiel vom 2. bis zum 5. April 2008 durchgeführt haben. Die Wege der beiden Wissenschaftler hatten sich für einige Zeit an diesem Ort gekreuzt, bevor es den einen (Görke) weiter nach Edinburgh, den anderen (Hirschler) an die SOAS in London verschlug.
In ihrer sehr informativen Einleitung ["Introduction: manuscript notes as documentary sources" (9-20)] geben Görke und Hirschler zunächst einen erhellenden Überblick über die bisher geleistete Forschung zum Thema - wichtige Arbeiten haben neben Ṣalāḥ ad-Dīn al-Munaǧǧid und Georges Vajda vor allem Jan Just Witkam und Stefan Leder vorgelegt. Zudem bieten uns die Herausgeber sinnvollerweise eine Arbeitsdefinition der von ihnen im Titel verwendeten Begriffe. Unter "manuscript notes" wollen sie "any written material that is found on a manuscript that does not belong to the main text(s)" (9-10) verstanden wissen. Dieses Material wiederum stelle, ihnen zufolge, einen sehr wichtigen Teil der auf uns gekommenen "dokumentarischen Primärquellen" (documentary sources) dar. In bewusstem Unterschied zu der von Ahasver von Brandt in seinem Klassiker "Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften" (18. Aufl. Stuttgart 2012) vorgenommenen Zweiteilung in "Traditionen" als Quellen, die eigens und absichtlich zum Zwecke (historischer) Unterrichtung geschaffen worden sind, und "Überreste" als Quellenmaterial, das von den Geschehnissen unmittelbar übriggeblieben ist, sehen sie in "documentary sources" eher "rather fragmentary remains that bear witness to specific individual or collective acts." (11) Darunter würden unter anderem Grabsteininschriften, Stiftungsurkunden, Rechtsdokumente, Verträge, Wallfahrtsnachweise und eben auch "manuscript notes" fallen. Der dokumentarische Charakter dieser Quellen werde demnach nicht so sehr durch die Intention eines Autors bestimmt als vielmehr durch die - im Gegensatz zu Chroniken, Reiseberichten oder biographischen Lexika - weniger ausgeprägte narrative Struktur der Texte.
Das Ziel des Bandes ist bescheiden: man möchte zeigen, dass die Zusätze in den Handschriften für eine Erforschung der nahöstlichen Gesellschaften in der Vormoderne eine wichtige zusätzliche und bislang noch nicht erschöpfend erforschte Quellensorte bieten. Das wird natürlich durch die elf Beiträge (in französischer, deutscher und englischer Sprache) bestens erfüllt, denn alle arbeiten auf ihre Art und Weise entsprechendes Material auf, um es dann kontextbezogen zu untersuchen und zu interpretieren. Dabei ist der Band grob in zwei Teile untergliedert. Zunächst geht es in sechs Beiträgen um neue Perspektiven in der Erforschung von iǧāzāt einerseits und samāʿāt andererseits, wobei beide Genres ja naturgemäß eng miteinander verflochten sind, dient doch eine Überlieferungserlaubnis in der Regel als Basis für eine Lehrbefugnis. Dann folgen die restlichen Abhandlungen, die den Fokus auf andere Formen von "documentary notes" richten.
Da nicht auf alle Aufsätze an dieser Stelle ausführlich eingegangen werden kann, soll zumindest - in Anlehnung an die Präsentation in der Einführung zum Band - ein kurzer Eindruck der Beiträge wiedergegeben werden.
Florian Sobieroj ["Einheitlichkeit und Vielfalt in islamischen Überlieferungszeugnissen und Lehrbefugnissen aus 1000 Jahren" (23-36)] leitet aus einer Beschäftigung mit einer großen Zahl von iǧāzāt aus verschiedenen Zeiten und Räumen einige allgemeine formale und inhaltliche Gemeinsamkeiten ab. Dies scheint aber nur bedingt möglich; zu groß sind einfach die sachlichen Disparitäten und die regionalen Besonderheiten. Jeweils einem einzigen Manuskript widmen sich dann Rosemarie Quiring-Zoche ["Der jemenitische Diplomat Qāsim Abū Ṭālib al-ʿIzzī (gest. 1380/1960) im Spiegel seiner Handschriften-Vermerke" (45-58)] und Stefan Leder ["Understanding a text through its transmission: Documented samāʿ, copies, reception" (59-72)]. Quring-Zoche zeigt sehr schön zweierlei. Zum einen wird deutlich, dass die samāʿ-Tradition im Jemen bis weit in das 20. Jahrhundert hineinreicht. Zum anderen gelingt es ihr, aus dem durchaus sperrigen Material hochinteressante biographische Informationen herauszuarbeiten, über die wir ansonsten nicht verfügen würden. Bei Leder stehen wiederum Überlieferungserlaubnisse im Zentrum, die im 12. Jahrhundert in Bagdad zu den Maʿānī al-Qurʾān von Farrāʾ (gest. ca. 821) hinzugefügt worden sind. Mit ihrer Hilfe kann vor allem der Wert, die weite Verbreitung und das allmählich Verschwinden des Textes aus dem Gelehrtendiskurs plausibel nachgewiesen werden. Auch Andreas Görke ["Teaching in 5th/11th-century Baghdad: Observations on the lectures of Abū l-Fawāris Ṭirād b. Muḥammad al-Zaynabī and their audience" (93-118)] konzentriert sich auf ein Manuskript, nämlich auf das K. al-Amwāl von Abū ʿUbayd al-Qāsim b. Sallām (gest. ca. 838). Dabei geht es ihm in erster Linie darum, zusammengehörige samāʿāt-Bündel aus dem 11. Jahrhundert zu identifizieren, die in der Regel auf die erfolgreiche Absolvierung einer Reihe von Sitzungen (etwa zu einem umfangreichen Werk) hinweisen. Es wird klar, dass die Übermittlung des Textes normalerweise durch die Einstellung von geeigneten Vorlesern in sehr geregelten Bahnen verlief. Ferner fanden die Lesungen - je nach Prestige des Textes und seines Autors - vor einem unterschiedlich großen Auditorium statt. Bisweilen kamen nur ein paar Leute, bisweilen war der "Hörsaal" zum Bersten gefüllt. Auch Konrad Hirschler befasst sich in seinem Beitrag ["Reading certificates (samāʿāt) as a prosopographical source: Cultural and social practices of an elite family in Zangid and Ayyubid Damascus" (73-92)] mit "strands of samāʿāt notes". Im Mittelpunkt seines Interesses stehen Zertifikate über die Teilnahme an Lesungen von Ibn ʿAsākirs (gest. 1176) voluminöser "Geschichte der Stadt Damaskus". In seinem Beitrag kann er sehr schön verdeutlichen, wie mithilfe einer genauen Analyse der samāʿāt nicht nur Personen aus dem Kreis der ʿulamāʾ identifiziert werden können, die in den üblichen biographischen Lexika keinen Eintrag bekommen haben, sondern dass es ebenso möglich ist, die Familiengeschichte der Banū ʿAsākir genauer als sonst nachzuzeichnen. Darüber hinaus geben ihm seine Quellen Auskunft über den Ablauf der Lesungen und über die gesellschaftliche Position einzelner Hörer.
Im zweiten Teil verlassen wir den Bereich der iǧāzāt und samāʿāt und kommen, wie gesagt, zu anderen "manuscript notes", d.h. zu Stiftungs-, Besitzer- und Leservermerken, Überlieferungsketten auf der Titelseite, Randbemerkungen oder Notizen. In einem recht kurzen Beitrag nutzt Claus-Peter Haase ("Marginal notes from the daily work of an Anatolian qadi in the early 19th century according to ms. ori Kiel 316" (121-124)] die persönlichen Bemerkungen, die ein anatolischer Kadi in den freien Feldern eines osmanischen Sammelwerkes aus dem späten 18., frühen 19. Jahrhundert gemacht hat, um dessen Interessen, Anschauungen und soziales Umfeld zu rekonstruieren. Einem anderen interessanten Phänomen spürt Jan Just Witkam nach. In seinem Beitrag ["High and low: Al-isnād al-ʿālī in the theory and practice of the transmission of science" (125-140)] beschreibt er am Beispiel einer in Leiden befindlichen Kopie von ar-Rāzīs (gest. 1023) Fawāʾid al-ḥadīṯ aus dem späten 12. Jahrhundert sehr überzeugend, wozu ein isnād ʿālī , also eine Überlieferungskette mit sehr wenigen Gewährsleuten, im Rahmen der nahöstlichen Manuskriptkulturen diente. Es folgen Überlegungen von Boris Liebrenz über die bis ins 19. Jahrhundert üblichen und nachweisbaren "Lese- und Besitzvermerke in der Leipziger Rifāʿīya-Bibliothek" (141-162). Anhand dieser Eintragungen kann er sowohl bemerkenswerte Aussagen über den Buchmarkt machen wie auch über die Beteiligung von Juden und Christen am intellektuellen Leben der damaligen Zeit. Bevor Jacqueline Sublet mit (recht ungeordneten) Anmerkungen zu einigen Autographen aus der Mamlukenzeit (1250-1517) den Sammelband abschließt ["Le manuscrit autographe: un statut particulier? Des exemples à l'époque mamelouke" (173-182)], teilt Nikolaj Serikoff mit uns seine "Beobachtungen über die Marginal- und Schnittmittel in christlich-arabischen und islamischen Büchersammlungen" (163-172). Aufgrund der Analyse von mehr als 10.000 Buchtiteln, welche Serikoff in den Jahren 2000-2008 im Rahmen zweier von ihm durchgeführten Katalogisierungsprojekte an der Wellcome Library in London und am Institut für Orientalische Handschriften der Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg vorgenommen hat, stellte sich bemerkenswerterweise heraus, das die ersten Teile der üblicherweise gereimten Titel, obwohl literarisch aufgebaut, nicht willkürlich sind, sondern im Normalfall einen Hinweis auf die Gattung des Werkes enthalten. Wir warten gespannt auf die von ihm angekündigte Veröffentlichung zu diesem Thema! In dem hier vorgelegten Artikel traktiert er Struktur- und Aufbau von Marginal- und Schnitttiteln anhand eines gut ausgewählten Textkorpus'. Er kommt zu dem letzten Endes doch überraschenden Ergebnis, dass man ganz offensichtlich aus bibliothekarischen Gründen die Originaltitel häufig vereinfacht oder umbenannt hat. Gelegentlich kam es zudem zur Formulierung neuer Benennungen. Letzten Endes erklärt dieses Vorgehen den Umstand, dass man ein arabisches/persisches/türkisches Werk in Katalogen oder anderen Texten unter verschiedenen Titeln angeführt findet.
Wer mitgezählt hat, weiß, dass ein Beitrag noch fehlt. Das hat seinen Grund. Ich denke nämlich, dass Rüdiger Lohlker in seinem Aufsatz ("Iǧāza als Prozess der Akkumulation sozialen Kapitals" (37-44)] auf zwei theoretische Ansätze hinweist, die für eine - durchaus anzustrebende - kulturwissenschaftliche Fundierung der Thematik wegweisend sein könnten: Zum einen geht es um Pierre Bourdieus Überlegungen zu sozialem und kulturellem Kapital, die sich ganz ausgezeichnet auf Lehrbefugnisse und Überlieferungserlaubnisse anwenden lassen. Zum anderen verweist er zurecht auf Gérard Genettes grundlegendes Werk Paratextes (Paris 1987), das den Ausgangspunkt für zahlreiche literaturwissenschaftliche Abhandlungen bildet. Hier sollte meiner Meinung nach künftig unbedingt anknüpft werden, wenn man die islamwissenschaftliche Forschung über "manuscript notes" für andere Disziplinen öffnen und damit zu einem attraktiven Gesprächspartner machen möchte.
Die Lektüre des Sammelbandes bietet sehr viele neue Einblicke in eine wichtige Quellengattung, deren Erschließung aber erst am Anfang steht. Nimmt man "manuscript notes" als "documentary sources" ernst, bilden sie - in Ergänzung zu den narrativen Texten - eine exzellente Basis für ideen-, sozial-, literatur- und wirtschaftsgeschichtliche wie für biographische oder topographische Studien. Dies gilt umso mehr, da wir im Nahen Osten bis zum 16. Jahrhundert - ganz im Gegensatz zu Europa - nur über sehr spärliches dokumentarisches Material verfügen.
Stephan Conermann