Peter Langer: Macht und Verantwortung. Der Ruhrbaron Paul Reusch, Essen: Klartext 2012, 784 S., ISBN 978-3-8375-0822-2, EUR 39,95
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Christian Marx: Paul Reusch und die Gutehoffnungshütte. Leitung eines deutschen Großunternehmens (= Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. XXV), Göttingen: Wallstein 2013, 708 S., ISBN 978-3-8353-1119-0, EUR 74,00
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Philip Plickert: Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der "Mont Pèlerin Society", Stuttgart: Lucius & Lucius 2008
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Nahezu gleichzeitig sind zwei jeweils über 700 Seiten starke Arbeiten über einen Manager erschienen, mit dessen Namen heute nur Spezialisten der Unternehmer- und Unternehmensgeschichte noch etwas anfangen können. Ist das nicht ein bisschen zu viel des Guten? Schließlich existiert auch das von ihm repräsentierte Unternehmen, der Oberhausener Stahlkonzern "Gutehoffnungshütte" (GHH), in der damaligen Form schon lange nicht mehr. Die anfängliche Skepsis verfliegt indes rasch. Beiden Autoren gelingt es auf unterschiedliche Weise, die Aktualität ihres Gegenstands und ihrer Fragestellung zu verdeutlichen. Überdies setzen sie, ungeachtet der im Kern identischen Quellenbasis - das ist selbstverständlich der Bestand der GHH im Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv in Köln - ganz unterschiedliche Akzente. Peter Langer interessiert sich vor allem für den "Politiker" Reusch, während Christian Marx den "Unternehmer" ins Zentrum rückt.
Langer, Jahrgang 1944, langjähriger Leiter einer Oberhausener Gesamtschule und Vorsitzender der Historischen Gesellschaft Oberhausen, hat bereits mehrere größere und kleinere einschlägige Studien veröffentlicht. Seine Hauptthese zum Wirken des "Ruhrbarons" findet sich schon auf dem Cover des Buchs: "Macht" erscheint dort, anders als "Verantwortung", in kräftigen Buchstaben. Mit anderen Worten: Reusch besaß große Macht, wurde aber der entsprechenden Verantwortung nicht gerecht: Was immer Reusch "in den 33 Jahren als Vorstandsvorsitzender des GHH-Konzerns tat oder sagte, war eminent politisch", konstatiert Langer gleich zu Beginn der Einleitung. Vor allem während der Weimarer Republik "übte er politische Macht aus und ist deshalb in die Verantwortung zu nehmen für die politischen Katstrophen in den drei Jahrzehnten seines Wirkens von 1909 bis 1942" (17). Die "politische Dimension seines Handelns" dient Langer denn auch als ausschlaggebendes Kriterium zur Beantwortung der Frage nach der Verantwortung des "mächtigen Großunternehmers Paul Reusch".
Herkunft, Ausbildung und erste berufliche Schritte handelt Langer auf einer halben Seite ab, er konzentriert sich voll und ganz auf Reusch als GHH-Chef. Das Buch ist im Wesentlichen chronologisch gegliedert, politische Ereignisse liefern die Überschriften der einzelnen Kapitel: Erster Weltkrieg, Revolution 1918/19, Kapp-Putsch, Reparationen und Inflation, Ruhrbesetzung, "relative Stabilisierung", Bruch der Großen Koalition, Präsidialkabinette, "Machtergreifung", Gleichschaltung, Diktatur und Rüstungsboom. In diese an die "große Politik" angelehnte Chronologie fügt Langer Kapitel über den Ausbau des GHH-Konzerns 1919/1920, Reuschs Aufstieg zum Sprecher der Ruhrindustrie, über dessen Rolle als Großindustrieller im NS-Staat oder im Widerstand ein. Quer zur Chronologie stehen kurze Kapitel über die "Männerfreundschaft Reusch - Spengler" oder über Reuschs Sprache, die mit ihrem "Hang zu Superlativen" (421) und Dramatisierungen gelegentlich auch schon Zeitgenossen aus dem Verbandsmilieu zu spöttischen Bemerkungen animierte.
Neue Befunde liefert Langer nicht. Dass sich Reusch schon im ausgehenden Kaiserreich als hardliner profilierte und sich beispielsweise damit brüstete, dass er "stets die größte Mühe" darauf verwandt habe, "der Sozialdemokratie und den sozialdemokratischen Gewerkschaften das Wasser abzugraben", weil "auch nur das geringste Zurückweichen der Industrie" unabsehbare politische und wirtschaftliche Folgen haben würde (72), war ebenso bekannt wie sein hartnäckiges Festhalten an annexionistischen Kriegszielen bis in den Sommer 1918 hinein oder sein "Widerstand" gegen die von Unternehmerkollegen wie Hugo Stinnes mit den Gewerkschaften ausgehandelte "Zentralarbeitsgemeinschaft" (174). Auch dass er das Mehrheitsprinzip kritisierte, ja das "demokratisch-parlamentarische System von Weimar" für ihn "die letzte Wurzel vieler Übel" darstellte und deshalb "als für Deutschland grundsätzlich ungeeignet abzulehnen" sei (459), ist keine Neuigkeit. Aber vermutlich kam es Langer darauf gar nicht an. Vielmehr wollte er mit seiner dicht belegten Studie zeigen, wie wenig Reusch seiner politischen Verantwortung als einflussreicher Unternehmer gerecht wurde. Immerhin hält er ihm zugute, dass er - im Gegensatz zu Kollegen wie Thyssen, Vögler oder Krupp - "öffentlich auf Distanz" zum NS-Regime achtete (630), ohne allerdings eine "direkte Konfrontation" mit dessen Machthabern zu wagen (699).
Ganz anders legt Christian Marx, Jahrgang 1977, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsverbund "Nach dem Boom", seine Untersuchung an. Zwar streift er ebenfalls Reuschs politische Einstellung oder dessen Verhältnis zu den politischen Eliten. Sein Urteil über Reuschs politisch-moralische Haltung etwa in der Frage des Zwangsarbeitereinsatzes fällt allerdings wesentlich subtiler aus: "Wertmuster außerhalb der ökonomischen Binnenrationalität kamen kaum zum Tragen" (591). Im Mittelpunkt seines Interesses stehen jedoch der Manager Reusch und dessen unternehmerische Leistung. Marx bedient sich bei seiner Analyse des in der neueren Unternehmensgeschichtsschreibung wiederholt erprobten corporate-governance-Ansatzes, der "das gesamte System interner und externer Kontroll-, Lenkungs- und Überwachungsmechanismen" in den Blick nimmt und das Unternehmen "sowohl als soziale Organisation wie auch als soziales Handlungsfeld individueller Akteure versteht" (14).
Auch Marx hat seine Arbeit chronologisch organisiert, doch orientiert er sich dabei an den "Eckdaten der Konzerngeschichte und dem Karriereverlauf Reuschs" (43). Im Unterschied zu Langer lässt er seine Untersuchung nicht mit dem Rückzug Reuschs von der Konzernspitze im Jahr 1942 ausklingen, sondern erst in der frühen Bundesrepublik, also erst nachdem es dem einstigen Konzernchef gelungen war, den ältesten Sohn Hermann als seinen Nachfolger an der Spitze der GHH zu etablieren. Für einseitige Etikettierungen hat Marx nichts übrig, die "generell erforderliche Anpassung der Unternehmensstrategie an die sich verändernden ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen" (11) steht für ihn außer Frage. Ihm kommt es deshalb darauf an, "die sozialen Netzwerke und komplexen sozialen Figurationen um Paul Reusch [...] systematisch über einen zeitlichen Längsschnitt zu erfassen, um so den Raum seiner möglichen Handlungsoptionen genauer ausleuchten und hierdurch seine unternehmerischen Entscheidungen bewerten zu können" (13).
Und diese Bilanz fällt durchaus positiv aus: Die GHH habe in den zahlreichen ökonomischen Krisen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts "hohe Widerstandskraft" bewiesen (568), Reusch sei einem "langfristigen, unternehmensstrategischen Kalkül" gefolgt (578) - und eben nicht ausschließlich kurzfristigen Profitinteressen, wie es damals - und heute - manche Finanzinvestoren taten und tun. Die innovative und schöpferische Leistung des "Unternehmers Reusch" sieht Marx folglich "nicht in der Entdeckung neuer Herstellungsmethoden", sondern vielmehr in der "gezielten Zusammenführung eines Montanunternehmens mit der Weiterverarbeitungsindustrie" (578), wobei hier allen voran die Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg (M.A.N.) zu nennen ist.
Während man sich bei Langer des Eindrucks nicht erwehren kann, dass er die "Schlachten von gestern" um die Verantwortung einzelner Unternehmer für Aufstieg und Sieg des Nationalsozialismus noch einmal schlägt, überzeugt Marx mit einer theoretisch-methodisch reflektierten, modernen Unternehmer- und Unternehmensgeschichte. So verdienstvoll die dichte Rekonstruktion des politischen Handelns eines bedeutenden Schwerindustriellen zwischen Kaiserreich und Drittem Reich zweifelsohne ist - den größeren Erkenntnisgewinn zieht man aus der Lektüre der Arbeit von Christian Marx.
Werner Bührer