Stefan Steck: Neue Ostpolitik - Wahrnehmung und Deutung in der DDR und den USA (19611974). Zur Symbolik eines politischen Begriffs (= Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 85), Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2012, XIV + 420 S., ISBN 978-3-8300-6478-7, EUR 98,00
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Die neue Ost- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition in Bonn war innenpolitisch außerordentlich umstritten und hatte eine bittere Polarisierung der politischen Lager zur Folge. Zwar wussten oder zumindest ahnten Politiker in allen Parteien spätestens seit Mitte der 1960er Jahre, dass der "wind of change" in der internationalen Politik und speziell in den Ost-West-Beziehungen vor der bundesrepublikanischen Außen- und Deutschlandpolitik nicht Halt machen würde. Die überaus behutsamen Anpassungen in der Regierungszeit von Bundeskanzler Ludwig Erhard (1963-1966) und während der Großen Koalition (1966-1969) blieben indes zu halbherzig, um den eigenen Manövrierraum nach Osten erweitern zu können.
Schon seit den frühen 1960er Jahren war die Bonner Politik in innenpolitische Auseinandersetzungen zwischen den ost- und deutschlandpolitischen Erneuerern und Traditionalisten verstrickt. Dieser Streit setzte sich in der zivilgesellschaftlichen Sphäre fort. Dabei ging es zuvörderst um die Frage der "Anerkennung der DDR", dann aber auch um die "Aussöhnung mit Polen", auf die etwa die beiden großen Kirchen drängten. In der Außensicht handelte es sich bei diesen Auseinandersetzungen um nichts Geringeres als die anstehende Neukalibrierung der Stellung Bonns im Ost-West-Konflikt im Übergang vom Kalten Krieg zur Entspannung. Die ostpolitischen Ziele Bonns und die verwendeten Methoden wurden sowohl im Westen als auch im Osten, ganz besonders in Ost-Berlin, mit großer Aufmerksamkeit und beträchtlichem Misstrauen verfolgt. Von außen betrachtet, ließen sich die vorsichtigen Wandlungsprozesse der deutschen Außenpolitik im Begriff der Ostpolitik oder der Neuen Ostpolitik verdichten. Das meint der Autor, wenn er von der Symbolik dieses politischen Begriffs spricht.
Der Terminus (Neue) Ostpolitik brauchte im politischen Diskurs zwischen 1961 und 1974 eine lange Anlaufzeit, bis er sozusagen in den grünen Bereich der eher positiven Assoziationen gelangte und die damit verbundenen Aktionen Bonns nicht mehr als den Interessen anderer Staaten zuwiderlaufend eingestuft wurden. Eine überraschend neue These ist das nicht. Überraschend ist eher die Gegenüberstellung von Reaktionen aus der DDR mit solchen aus den USA, denn das Land, an das man zuerst denkt, wenn es um Misstrauen und Skepsis, ja Ängste in Bezug auf eine Politik des "Wandels durch Annäherung" in der Bundesrepublik gegenüber den sowjetsozialistischen Regimen jenseits der Elbe geht, ist Frankreich. Der Autor bemüht sich im theoretisch-methodischen Eingangskapitel relativ wortreich nicht nur um die Konstruktion einer kulturgeschichtlich inspirierten diskursanalytischen Grundlage für seine Arbeit, sondern auch um eine tragfähige Begründung seines Vergleichs zwischen zwei so unterschiedlichen Akteuren wie der DDR und den USA. Das ist alles ein bisschen holprig, und man merkt deutlich, dass der Text auf eine Dissertation zurückgeht (diese stammt aus der Humboldt-Universität Berlin).
Als Material für die Untersuchung der politischen Einschätzungen und taktischen Reaktionen auf die ost- und deutschlandpolitischen Züge der Bundesregierungen zieht der Autor für die DDR partei- und regierungsinterne Dokumente sowie die Tageszeitung Neues Deutschland, das Magazin Horizont und die Zeitschrift Deutsche Außenpolitik heran. Entsprechend verfährt er im Fall der USA, wobei hier als Ausschnitt aus dem öffentlichen Diskurs zur Ostpolitik die New York Times (eher liberal) und die Zeitschrift Human Events (republikanisch-konservativ) in den Blick genommen werden.
Diese Materialien werden abgefragt nach Meinungen, Beurteilungen und Interpretationen der Bonner Ostpolitik. Für die DDR ergibt sich, dass in den gesamten 1960er Jahren ein negatives Bild der Ostpolitik Bonns dominierte, ja dass diese als eine raffinierte Art der imperialistischen Einwirkung auf das eigene Land angesehen wurde. Zugleich waren jedoch die mit der Bonner Ostpolitik verbundenen Angebote durchaus verlockend. Da das politische Weltbild der Partei- und Staatsführung der DDR auf der Vorstellung beruhte, das internationale Kräfteverhältnis verschöbe sich immer mehr zugunsten des eigenen Lagers, stand hier ein Interpretationshebel zur Verfügung, mit dessen Hilfe man die Bonner Politik als erzwungene Anpassung an Initiativen aus dem eigenen Lager umdeuten konnte. Das zerstreute das Misstrauen zwar nicht völlig, aber seit dem Regierungsantritt der sozialliberalen Koalition wurde die Bonner Ostpolitik viel positiver beurteilt. Mit dem Mittel der (ideologischen) Abgrenzung, so glaubte oder hoffte die DDR-Führung, würden unliebsame Wirkungen der engeren systemüberwindenden Kooperation neutralisiert werden können.
Das Misstrauen in den USA, schreibt der Autor, beruhte vor allem auf historischen Erfahrungen mit Deutschland im 20. Jahrhundert und auf der Furcht vor einer Wiederkehr des Nationalismus, für den nationale Einheit wichtiger sein könnte als die Integration in das westliche Lager. Meinem Eindruck nach neigt der Autor hier zur Überinterpretation amerikanischer Befürchtungen. Denn die wirtschafts- und sicherheitspolitischen Klammern hielten die Bundesrepublik fest in den westlichen Bündnissen, und weder Neutralismus noch extremer Nationalismus wurden durch die Bonner Ostpolitik auch nur einen Deut populärer. Anders als bei der französischen politischen Elite hielten sich Rapallo-Ängste in Washington in sehr engen Grenzen. Dass speziell die Nixon-Administration die sozialliberale Ostpolitik so kritisch betrachtete, lag im Übrigen nicht zuletzt an der Opposition von CDU/CSU, die in den frühen 1970er Jahren die Ostpolitik von Willy Brandt und Walter Scheel mit harten Bandagen bekämpfte.
Der Autor kann die allmähliche Veränderung zum Freundlicheren in den Einschätzungen der Ostpolitik Bonns in der DDR und den USA insgesamt überzeugend nachzeichnen. Die Studie läuft zum Schluss auf ein großes Lob für Willy Brandt hinaus. Der eigentliche Erfolg seiner Ostpolitik sei atmosphärischer Natur gewesen. Indem seine Politik die fundamentalen Realitäten akzeptiert habe, sei der Weg zu einem anhaltenden konstruktiven Dialog zwischen den Blöcken frei geworden. Das ist eine für eine kulturhistorische Diskursanalyse zwar etwas fremdartige Semantik, aber ganz falsch ist dieses Resümee ja nicht. Ganz neu aber auch nicht.
Wilfried von Bredow