Hans-Ulrich Thamer: Die Völkerschlacht bei Leipzig. Europas Kampf gegen Napoleon (= C.H. Beck Wissen; 2774), München: C.H.Beck 2013, 126 S., ISBN 978-3-406-64610-2, EUR 8,95
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Die "Napoléomanie" boomt zum 200jährigen Jubiläum der so genannten Leipziger Völkerschlacht im Oktober 2013, und es steht außer Frage, dass dieses Ereignis als ein Höhepunkt der "bellizistischen Sattelzeit" (J. Leonhard) um 1800 angesehen werden muss, der die deutsche und die europäische Geschichte maßgeblich veränderte.
Unter der Fülle an Veröffentlichungen über das Ereignis findet sich der Band von H. U. Thamer. Er, bekannt unter anderem für seine Arbeiten über die Französische Revolution, skizziert in acht Abschnitten Vorgeschichte, Verlauf und Nachwirken der Völkerschlacht. Das Buch weist einen gewissen Handbuch-Charakter insofern auf, als es keine neuen Aspekte der Forschung aufwirft, sondern bekanntes zusammenfassend darstellt. Dem Konzept der Reihe entsprechend kommt der Band dabei ohne Fußnoten aus, was die stellenweise strukturlos erscheinende Gliederung unterstreicht.
Der 5. Abschnitt der Darstellung bildet den Kern des Bandes: Die Entscheidung von Leipzig: 14.-19. Oktober. Detailliert beschreibt Thamer das Schlachtfeld, dessen geographische Verortung, den damaligen Zustand der Stadt Leipzig. Er teilt den Verlauf der so genannten Völkerschlacht in Prolog, Atempause, und Abschnitte, die die Tage vom 16. Oktober bis zum 19. Oktober 1813 referieren. Aufgelockert wird die Beschreibung durch zahlreiche Zitate von Zeitgenossen (leider ohne Belege). Sprachlich gleitet der Autor an manchen Stellen in einen etwas malerischen Duktus: Da ist Napoleons "alte Energie" wieder da, fordert "Blücher polternd" (46) und die Soldaten "schleppten sich mit Krankheiten herum" (57). Die abgedruckten Karten der "Völkerschlacht" (Abb. 3 und 4) sind wenig aussagekräftig (54).
Eines der stärksten Kapitel des Bandes ist, auch wenn es sich im Vergleich zur Darstellung des Verlaufs der Völkerschlacht klein ausnimmt, Kapitel 6: Kulturen der Gewalt. Thamer beschreibt Lebensbedingungen und Kriegserfahrungen von Soldaten und Zivilisten in den Feldzügen des Jahres 1813. Hier greift der Autor einen Ansatz der (kultur-)historischen Forschung auf, der seit etwa 20 Jahren angewendet wird und über den bloßen Verlauf von Schlachten und deren zugrunde liegenden Parametern die mentalitätsgeschichtliche Dimension jener bellizistischen Eruptionen untersucht.
Thamer beschreibt auch die (ausufernde) Erinnerungskultur, die als Reflex auf die individuelle und kollektive Erfahrung der Revolutions- und Napoleonischen Kriege (bzw. der Völkerschlacht) Bestandteil der europäischen Kultur wurde. Unrecht hat er, wenn er die Forschungsleistung zum Thema allein französischen Kulturwissenschaftlern zuschreibt (79) - man denke in diesem Zusammenhang an die Leistungen des Sonderforschungsbereiches Erinnerungskulturen um Dieter Langewische und Horst Carl an der Uni Gießen oder an die Forschungen von Ute Planert, Karen Hagemann und anderen.
Ein Grundproblem der Darstellung liegt in der Behandlung der Frage, ob es sich 1813 um einen Befreiungskampf oder um einen Freiheitskrieg handelte. Thamer operiert mit beiden Begriffen, erklärt auch ihre Bedeutung, scheint sich aber nicht auf die Verwendung eines Begriffes festlegen zu können, was dazu führt, dass dem Leser nicht klar wird, ob es nun 1813 bereits eine "Nationalbewegung" gegeben habe, die einen "Freiheitskrieg" führte.
Es muss betont werden, dass sich hinter den Formulierungen Befreiungskrieg und Freiheitskrieg zwei kontroverse Ideologien verbergen: Das Wort Freiheitskriege evoziert die Vorstellung, es sei 1813 für die Freiheit des Volkes, des Individuums, der Nation gekämpft worden. Befreiungskrieg hingegen meint die Befreiung von napoleonischer Herrschaft. Tatsächlich ist das Wort Freiheitskrieg älter als der Begriff Befreiungskrieg. Es fand sich bereits im 18. Jahrhundert, im Zusammenhang mit dem nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg, mit der Französischen Revolution und - schon im 16./17. Jahrhundert - dem Krieg der Niederländer gegen die Spanier. Freiheitskrieg wurde sukzessiv im langen 19. Jahrhundert zur Parole liberaler Kräfte, die das Ziel eines geeinten deutschen Verfassungsstaates verfolgten. Konservative benutzten in der Restaurationsphase nach 1815 den Begriff Befreiungskrieg zur Betonung des Kampfes gegen die französische Hegemonie. Nach 1870 wurde der Ausdruck Befreiungskrieg fast allgemein benutzt oder durch Bezeichnungen wie "glorreichste", "ruhmreichste" oder "Heldenzeit" ersetzt, oder Zeitalter der deutschen Erhebung, wie der Titel eines 1906 von Friedrich Meinecke herausgegebenen Buches lautet. [1] Vor allem in der marxistischen Geschichtsschreibung setzte sich der Terminus Befreiungskrieg durch.
Es sei bemerkt, dass seit den Studien von Otto Dann, Hagen Schulze und anderen zum Thema "deutsche Nationalbewegung" seit vielen Jahrzehnten Konsens in der Forschung besteht, dass es eine solche (Nationalbewegung) 1813 (noch) nicht gegeben habe und sich allenfalls von einer gegen Frankreich gerichteten euphorischen Massenbegeisterung und von frühen Vertretern einer nationalen Idee schreiben lässt. Thamer sieht das, wenn er (35) feststellt: "Reformen und nationale Befreiung waren anfangs nur Projekte von einigen preußischen Reformern und Patrioten (...)". Wenige Seiten vorher heißt es allerdings noch, Napoleons Niederlage in Russland (1812) sei zum Fanal für die "Deutschen" geworden, eine "starke Nationalbewegung hervorzubringen" (29). Das ist nicht zu unterschreiben - und, welche "Deutschen" meint er?
Auch in seiner Beschreibung des Frühjahrsfeldzuges von 1813 und des Aufmarsches der Armee (Kapitel 4) stellt er fest, das Ziel einer deutschen nationalen Einheit, sei 1813 Wunschtraum einer breiten Bevölkerungsschicht im Reich gewesen (36). Nun könnte der Leser verwirrt sein: Freiheitskriege oder Befreiungskriege, Nationalbewegung oder nicht? Zudem stellt sich die Frage, von welchem Reich die Rede ist. Die Neuordnung der deutschen Staaten auf dem Wiener Kongress 1815 war noch nicht vollzogen - von einem "Reich" konnte man seit 1806 nicht sprechen und die Reichseinigung nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 lag noch in weiter Ferne.
Weitere Aussagen könnten semantisch und inhaltlich präziser sein. Keineswegs unumstritten etwa war Napoleon in der Reihe seiner Generäle im Jahr 1813 (wie Thamer meint, 39) - bereits seine Entscheidungen in Russland wurden kritisch hinterfragt - wie auch Adam Zamoyski in seinem exzellenten Buch über 1812 nachwies. Falsch ist, wenn "die Feldzüge des Jahres 1813 die entscheidenden Schlachten der napoleonischen Kriege werden sollten" (41) - entscheidend war die Schlacht von Waterloo 1815.
Ungeachtet dieser Kritik lässt sich zusammenfassend feststellen, dass Thamer einen informativen, schlanken Band vorgelegt hat, der anlässlich des 200. Jubiläums der Völkerschlacht einen soliden Überblick über das Thema auf der Grundlage neuerer Forschung liefert.
Anmerkung:
[1] Friedrich Meinecke: Das Zeitalter der deutschen Erhebung, 1795-1815, Bielefeld / Leipzig 1906.
Kirstin Buchinger