François Georgeon / Frédéric Hitzel: Les Ottomans et le temps (= The Ottoman Empire and its Heritage. Politics, Society and Economy; Vol. 49), Leiden / Boston: Brill 2012, XII + 387 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-90-04-21132-2, EUR 143,00
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Was ist Zeit? Wie wird sie gedacht, wie erfahren und wie gemessen? Und welchen Einfluss hat sie auf Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und den Alltag der Menschen? Für das Osmanische Reich sind diese Fragen weitgehend unbeantwortet. Ludwig Ammanns 60-seitiges "Kommentiertes Literaturverzeichnis zu Zeitvorstellungen und geschichtlichem Denken in der islamischen Welt" listet nur wenige osmanistische Studien [1]. Dafür gibt es mehrere Gründe. Auch hat sich seit der Veröffentlichung 1997 einiges getan. Und dennoch tritt hier ein Forschungsdesideratum deutlich zu Tage. Sehr zu begrüßen ist daher der von François Georgeon und Frédéric Hitzel herausgegebene Sammelband "Les Ottomans et le temps". Erklärtes Ziel ist, die politischen, sozialen und kulturellen Dimensionen von Zeit im Osmanischen Reich zu beleuchten. Die Forschung der letzten Jahre habe sich ausschließlich mit Formen und Techniken der Zeiterfassung beschäftigt.
Die insgesamt vierzehn Beiträge sind vier Themenblöcken zugeordnet. Unter "Zeitmessung" befasst sich Frédéric Hitzel mit der mechanischen Uhr, die im 15. Jahrhundert aus Europa an den osmanischen Hof gelangte und sich lange einer großen Popularität erfreute. Dabei stand nicht die Funktion im Mittelpunkt, sondern das Objekt. Zeit wurde erst im 19. Jahrhundert a la franca gemessen. Das manifestierte sich, wie Klaus Kreiser's Inventar osmanischer Uhrtürme zeigt, auch im öffentlichen Raum. Gülçin Tunalı Koç illustriert, dass die Gestirne dennoch weiterhin eine wichtige Rolle im Alltag spielten. Ihre Studie von Kalendern und Horoskopen bietet spannende Einblicke in die Arbeit eines Astrologen, der sich der psychologischen Wirkung seiner Voraussagen klar bewusst war. Sie schöpft das Potential dieser faszinierenden Quellen aber nicht voll aus.
Unter "Zeit und Zeitlichkeiten" betrachtet Nicolas Vatin die Größe Zeit in der Politik und das Zusammenspiel von Zeit und Raum. Als Sultan Süleyman 1566 in Ungarn starb, erwies Großwesir Sokollu Mehmed Pascha sich als "Herr der Zeit", um einen reibungslosen Übergang bis zur Thronbesteigung Selims II zu organisieren. Er zog die Dauer normativ festgeschriebener Handlungen ebenso in Betracht wie die Geschwindigkeiten, mit der Nachrichten unter bestimmten geographischen und klimatischen Gegebenheiten ihren Adressaten erreichten. Die Bedeutung von Verkehrswegen für das Funktionieren von Informationsnetzwerken thematisiert auch Marc Aymes' Beitrag über die Einbindung der Provinz Zypern in hauptstädtische Diskurse. Bernard Lory und Hervé Georgelin zeigen für die multikulturellen Städte Smyrna und Monastir, dass ein breites Bewusstsein für verschiedene Zeitlichkeiten und Zeitsymboliken wie Festtage existierte. Özgür Türesay bietet eine gelungene Beschreibung dieser "hybriden Zeitarchitektur" der osmanischen Gesellschaft in Almanachen, also Kalendern mit praktischen Informationen und kurzen literarischen Texten zur Unterhaltung der spätosmanischen Bildungselite. Nikos Sigalas formuliert die These, dass die Integration des Osmanischen Reichs in das europäische Mächtegefüge in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Transformation von Herrschafts- und Geschichtskonzepten zur Folge hatte: von sich zyklisch aneinanderreihenden Geschichten einzelner Sultane, deren Herrschaftsanspruch auf göttlichem Mandat beruhte, zu einer linearen Geschichte des Osmanischen Staats, der seinen Souveränitätsanspruch aus gesellschaftlichen Notwendigkeiten ableitete. Der Autor stützt sich in seinen Ausführungen auf Ibrahim Müteferrika, lässt jedoch unerwähnt, dass es sich hierbei um einen humanistisch gebildeten ungarischen Renegaten handelte, dessen Denken nicht unbedingt den osmanischen mainstream abbildete. Das stellt sein an sich nicht uninteressantes Argument in Frage. Auch versäumt Sigalas seine Überlegungen in bereits bestehende Forschungsdiskussionen einzubetten. Baki Tezcan etwa sah im 18. Jahrhundert ebenfalls die Entwicklung eines säkularen und positivistischen Geschichtsverständnisses, das das Osmanische Reich in einer gesamteuropäischen Moderne verortet, begründete diesen Wandel jedoch mit innerosmanischen Dynamiken. [2]
Eine gelungene Studie zu osmanischer Historiographie des 19. Jahrhunderts findet sich unter dem Abschnitt "Osmanische Moderne". Johann Strauss zeichnet quellenreich nach, wie die Osmanen das Mittelalter endeckten und das Konzept einer dreigeteilten Geschichte (Antike, Mittelalter, Moderne) anstelle der traditionellen Einteilung in zwei Epochen (vorislamisch, islamisch) schrittweise übernahmen und dem osmanischen Kontext anpassten. Neue Formen der Zeitorganisation und -kontrolle im Rahmen der Reformen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts untersuchen François Georgeon anhand von Kalendern, Arbeitszeiten und Feiertagen und Gülsün Güvenli anhand von Zeitregimen in Schulen. Avner Wishnitzer betrachtet wie moderne Praktiken der Zeitorganisation zur Disziplinierung der nach 1826 neu geschaffenen Armee eingeführt wurden und argumentiert überzeugend, dass letztere zum Akteur eines Wertewandels wurde, der Zeit als Ressource begriff, die nicht nur für die Ordnung des Militärs, sondern der gesamten Gesellschaft effizient zu nutzen sei.
Unter dem letzten Abschnitt "Osmanische Zeit in der türkischen Republik" finden sich die eher essayistischen Beiträge von Jérôme Cler und Timour Muhidine, die sich dem Thema Wandel und Erinnerung an eine verlorene Zeit aus ethnomusikologischer und literaturwissenschaftlicher Perspektive nähern. Der Band schließt ungewöhnlich poetisch: mit einem Text des türkischen Dichters Ahmet Hâşim (gestorben 1933) über die Verwirrung, die die moderne Zeit im Leben der Menschen stiftete.
Kein Sammelband kann ein komplexes Thema wie "Zeit im Osmanische Reich" in seiner Breite abdecken. Auf einige lacuna, etwa die Zeiterfahrungen verschiedener sozialer Gruppen, weisen die Herausgeber hin. Auch Erinnerung und Vergessen oder die Zukunft werden nicht thematisiert. "Les Ottomans et le temps" spiegelt zudem die ungebrochene Dominanz des langen 19. Jahrhunderts in der osmanistischen Forschung. Der Leser wird einen Einblick in die osmanische Frühzeit, die in keinem der Beiträge behandelt wird, sowie eine tiefere Analyse der Epoche vor der Tanzimat vermissen. Insgesamt betrachtet bietet der Band dennoch zahlreiche neue Erkenntnisse. Deutlich wird insbesondere die Vielfalt der Zeitregime, die im Osmanischen Reich synchron und diachron existierten und das Funktionieren des Staates wie des alltäglichen Miteinanders strukturierten. Einige Studien stechen als innovativ, quellengesättigt und gut organisiert und geschrieben heraus. Bei anderen Beiträgen wünschte man, die Herausgeber hätten auf eine stärkere Fokussierung und Klarheit in Struktur und Sprache gedrängt. Auch die Anordnung der Beiträge innerhalb der vier Themenblöcke ist nicht immer nachvollziehbar. Von einigen Nachlässigkeiten wie unterschiedlichen Zitierweisen oder fehlender Angaben (Cler) in den Fußnoten abgesehen, handelt es sich um eine sorgfältig edierte Publikation, die durch eine gemeinsame Bibliographie ergänzt wird. Der Preis von 143,- Euro ist jedoch stattlich. Es bleibt zu hoffen, dass der Band angesichts dessen und der fast ausschließlich französischsprachigen Beiträge auch in der englisch- und türkischsprachigen Forschung angemessen wahrgenommen wird.
Anmerkungen:
[1] Die Welt des Islams 37:1 (1997), 28-87.
[2] Baki Tezcan: The Politics of Early Modern Ottoman Historiography, in: Virginia H. Aksan / Daniel Goffman (ed.): The Early Modern Ottomans: Remapping the Empire, Cambridge 2007, 167-198.
Denise Klein