Jacques Rancière: Und das Kino geht weiter. Schriften zum Film. Herausgegeben von Sulgi Lie und Julian Radlmaier. Aus dem Französischen von Julian Radlmaier, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2012, 223 S., ISBN 978-3-941360-19-8, EUR 14,80
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Jacques Rancière zählt wie Stanley Cavell und Gilles Deleuze zu den Philosophen, die sich lange und intensiv mit dem Film befasst haben; allerdings waren hierzulande bislang nur verstreute Aufsätze von ihm zum Thema zugänglich. Seit 2012 liegen endlich zwei einschlägige deutschsprachige Sammlungen vor: nämlich außer einer von Peter Engelmann verantworteten Edition [1] auch der besprochene Band. In ihm finden sich rund 20 Artikel, die Rancière zwischen 1998 und 2007 für die beiden bedeutendsten französischen Filmzeitschriften, Les Cahiers du cinéma und Trafic, geschrieben hat. Radlmaiers Übersetzung lässt sich flüssig und gut lesen (bei Übersetzungen von Rancière keineswegs die Regel!) und ist sorgfältig kommentiert. Das Nachwort von Lie (199ff.) paraphrasiert die zentralen Thesen der Texte Rancières, wäre aufgrund dessen aber besser als Einleitung geeignet.
Um Rancières ästhetisches Interesse in diesem Band auf den Begriff zu bringen, behilft man sich am besten mit dem Paradox, dass es sich dabei um ein Interesse an dem handelt, was sich nicht auf den einen Begriff bringen lässt. Rancière variiert damit ein Motiv, das bereits Immanuel Kant in seiner Analyse des ästhetischen Urteils und auch in seinen Ausführungen zur ästhetischen Idee vorgegeben hat: Demnach finden sich in unserer Rezeption des Schönen und im Nachdenken über Kunstwerke Anteile des Sinnlichen, der Einbildungskraft und des Verstandes, wobei die sinnliche und imaginative Fülle zwar den Verstand stimuliert, von diesem aber nicht mit einer abschließenden Definition bewältigt werden kann. [2] Mit der Aufnahme dieses Motivs steht Rancière in einer Tradition, zu der auch Marcel Prousts Bemühungen um eine "reine Poesie" gehören [3] oder Theodor W. Adornos Plädoyer für das "Nichtidentische". [4]
Rancières erste Variation dieses Motivs findet sich in seiner nachdrücklichen Beschreibung des Kinos als "unrein": Es lasse sowohl Raum für die Konstruktion raffinierter Plots als auch für eine freie Kombination von Bildern (120f.); deshalb spricht er andernorts auch von der "fable contrariée", der durchkreuzten Fabel des Films. [5] Ferner verkörpere das Kino die "Tugend des Dissenses" (50f.), da sich in ihm - auch und gerade bei der Verfilmung von Literatur - Wort und Bild wechselseitig in Frage stellen könnten. Außerdem zeige es einerseits Strukturen eines "Unterhaltungsprodukts", gehe aber andererseits Mischformen ein, die ihren Weg aus dem Dunkeln der Projektionssäle in die Galerien und Museen gefunden hätten (10f., 88f.). Rancière sieht daher im Kino einen Einspruch gegen zentrale Doktrinen der ästhetischen Moderne, als da wären: Weltverlust, mediale Reinheit und Entsinnlichung der Kunst. Das Kino ist, wie er mit avantgardistischer Verve darlegt, ein Paradigma "ästhetischer Revolution", insofern es auf das "Durchbrechen aller Barrieren" zielt, "die die einzelnen Künste in der Autonomie ihres eigenen Territoriums einsperrten und sie vom prosaischen Leben trennten" (16).
Eine zweite und normative Variation des Motivs begegnet dort, wo Rancière gelungene Szenen oder Filme als "nicht-wiederkennbar" auszeichnet (33ff., 137ff.): Das Personal von fiktionalen Filmen könne sich etwa (anders als im Kino von Dominique Cabrera und Laurence Ferreira Barbosa) historischen und soziologischen Schemata entziehen, oder die Dokumentation sich dem naheliegenden Archivmaterial verweigern (wie in der Dokumentation Shoa, in der Claude Lanzmann sich dem millionenfachen Mord an den Juden nicht über die Bilder von Lagerbaracke und Massengrab nähert, sondern mit Kamerafahrten über die Orte des Verbrechens, über die im wahrsten Sinne des Wortes Gras gewachsen ist, und mit den Stimmen der Täter, Zuschauer und überlebenden Opfer, die er im Interview hörbar macht).
Ansätze zu einer dritten, methodischen Variation des Motivs lassen sich in Rancières Verfahren nachweisen, Phänomene des Films nicht schlicht den Begriffen der ästhetischen Tradition zu subsumieren, sondern diese anhand jener Phänomene einer Revision zu unterziehen. Diese Art, Begriffe zu testen, wird am greifbarsten in der Auseinandersetzung mit Mikio Naruse, dessen Filme Rancière daraufhin befragt, inwieweit sie noch mit der Aristotelischen Terminologie von Mythos, Mimesis und Katharsis fassbar sind und wo sie mit ihnen brechen (57ff.).
Auf die vierte und letzte Variation stößt man in Rancières Behauptung, dass die Ästhetik des Kinos mit ihren hier skizzierten deskriptiven, normativen und methodischen Implikationen "fundamental politisch" sei (16; vgl. 100f., 166 u.ö.). Die Politik des Kinos erschöpft sich demnach nicht darin, uns durch "in Großaufnahmen kadriertes Elend" zu alarmieren (150), sondern sie soll unser modernes Verständnis von Kunst und die gängigen Kategorien der Ästhetik ebenso in Frage stellen wie die Konventionen des politischen und engagierten Kinos.
Welche Bilanz lässt sich angesichts dieser vier Variationen über ein Kantisches Motiv ziehen? Zu kritisieren ist, wie wenig Rancière seiner doch starken Idee des "unreinen" Kinos selbst über den Weg traut. Die hier fällige Auseinandersetzung mit Unterhaltung, Trash, Mainstream-Kino oder Fernsehen sucht man vergeblich, denn Rancière lässt seine "ästhetische Revolution" all ihre "Barrieren" vorzugsweise im gepflegten Ambiente des Autorenkinos durchbrechen. Problematisch bleibt darüber hinaus die sehr großzügige Assimilation von Ästhetik und Politik. Zwar spricht nichts gegen einen weiteren Begriff von Politik, aber alles gegen den Versuch, jeder ästhetischen Intervention nun deswegen bereits politische Relevanz im engeren Sinne zuzusprechen; und auf dieses begriffliche Hütchenspiel verzichtet Rancière leider nicht immer.
Nicht zu monieren, aber festzuhalten bleibt, dass Rancières Neokantianismus theoretisch nichts grundsätzlich Neues bietet. In seinem Nicht-Wiedererkennbaren lassen sich unschwer Kategorien wiedererkennen, die die philosophische Ästhetik bereits seit über 200 Jahren umtreiben, nämlich das Individuelle, das Besondere und (natürlich, ironischer Weise) das Neue. Tatsächlich neu und in der Durchführung eindrucksvoll ist jedoch, dass Rancière das Kino als integralen Bestandteil einer solchen Ästhetik begreift. Beides zusammen mag erklären, weshalb die eine oder andere Partie des Bandes sich so liest wie - ein von seiner Ignoranz gegenüber dem Kino glücklich kurierter - Adorno.
Zu den Stärken von "Und das Kino geht weiter" zählt nicht nur die philosophische Rehabilitierung des Films als Gattung, sondern vor allem die subtile Beschreibung und Interpretation einzelner Filme und Schlüsselszenen. Dabei gelingt Rancière immer wieder das Kunststück, Theorie zu verwenden, um neuen Erfahrungen den Weg zu bahnen. Seine Texte öffnen den Lesern in der Tat die Augen. Allein schon das, was er zu Alexander Sokurovs Flüsternde Seiten und seinen Engführungen von Ikonenmalerei, piktorialistischer Fotografie und bewegtem Bild anzumerken hat (93ff.), oder auch nur die Einsichten in die (Über-)Lebenskunst des Wohnens, die er anhand von einigen Momenten aus Pedro Costas Filmen über die mittlerweile zerstörten Lissaboner Favelas gewinnt (189ff.), machen den Band lesenswert. Auch deshalb muss man den Herausgebern Lie und Radlmaier dankbar sein, dass sie der Stimme des Filmphilosophen Rancière im deutschsprachigen Raum Resonanz verschafft haben.
Anmerkungen:
[1] Jacques Rancière: Spielräume des Kinos, Wien 2012.
[2] Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Frankfurt am Main, 132f., 253 (§§ 9, 49).
[3] Marcel Proust: Im Schatten junger Mädchenblüte. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, zweiter Teil, Frankfurt am Main 1981, 538.
[4] Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1973, 296ff.
[5] Vgl. Jacques Rancière: La Fable cinématographique, Edition Paris 2001.
Dimitri Liebsch