Niels Weise: Eicke. Eine SS-Karriere zwischen Nervenklinik, KZ-System und Waffen-SS, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2013, 456 S., ISBN 978-3-506-77705-8, EUR 39,90
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Theodor Eicke zählte ohne Zweifel zu den allerschlimmsten NS-Verbrechern. Als Führer der Pfälzer SS ließ er in der "Kampfzeit" an die hundert Sprengkörper bauen, um die verhasste Weimarer Republik durch Terror zu destabilisieren. Als Kommandant des Konzentrationslagers Dachau und später Inspekteur aller Konzentrationslager machte er hunderttausenden Häftlingen das Leben zur Hölle. Als Kommandeur der SS-Totenkopfdivision zeichnete er in Polen, Frankreich und der UdSSR für schwerste Kriegsverbrechen wie Massakern an britischen, marokkanischen und sowjetischen Kriegsgefangenen verantwortlich. Dass Eicke nach 1945 nicht auf der Nürnberger Anklagebank Platz nehmen musste, lag nur daran, dass er im Februar 1943 bei einem Erkundungsflug in der Ukraine abgeschossen wurde und ums Leben kam. Die Tatsache, dass Waffen-SS-Veteranen diesen Schwerverbrecher noch jahrzehntelang liebevoll als "Papa Eicke" titulierten und zu einem Kriegshelden stilisierten, verschlägt einem die Sprache.
Obwohl es keinen zentralen Nachlass Eickes gibt und die Quellenlage alles andere als optimal ist, hat sich der Würzburger Historiker Niels Weise der Mühe unterzogen, den Lebenslauf dieser Hauptfigur nationalsozialistischen Unrechts nachzuzeichnen. Er konnte sich dabei auf gewichtige Vorarbeiten wie Johannes Tuchels Studien zur Inspektion der Konzentrationslager und Charles Sydnors Pionierarbeit zur Totenkopfdivision stützen. [1]
Der Forschungsstand mit umfangreichen Kenntnissen zur Karriere Eickes ab 1934 und eher dünnen zu seiner Frühgeschichte hat Weise dazu bewogen, eine "Schwerpunktbiografie" (24) mit dem Fokus auf die Jahre bis 1934 zu verfassen. Entsprechend widmet er diesem Zeitraum 219 Textseiten, während er die eigentliche "Hauptwirkungszeit" Eickes im Kapitel "Von Dachau nach Orelka" auf nur 71 Seiten zusammenfasst. Diese Gewichtung macht aus Sicht des spezialisierten NS-Forschers Sinn, da Weise sich so darauf konzentrieren kann, wirklich Neues herauszuarbeiten. Interessierten Laien oder Studenten dürfte diese Struktur dagegen ebenso wenig entgegenkommen wie die Tatsache, dass Weise - wohl mangels Quellen - den Privatmann Theodor Eicke so gut wie gar nicht in den Blick nimmt.
Welche neuen Ergebnisse bietet nun die trotz einiger kleiner struktureller Schwächen [2] insgesamt gut lesbare und klar argumentierende Dissertation Weises? Hier sind vor allem drei Aspekte herauszustellen:
Erstens verdeutlicht die detaillierte Auseinandersetzung mit der "Pirmasenser Bombenaffäre" (95-176), die in vielem an den ungleich bekannteren Skandal um die "Boxheimer Dokumente" [3] erinnert, einmal mehr, dass sich die Nationalsozialisten im Kampf gegen das Weimarer "System" keineswegs an Hitlers Legalitätsschwüre hielten, sondern neben der Propaganda stets auch auf radikale Gewalt setzten.
Zweitens macht Weise eindringlich klar, wie gut es Heinrich Himmler verstand, sich seine SS-Führer durch "Verpflichtung", "Treue" und "Erziehung" gefügig zu machen. 1933, als Eicke sich ebenso heillos wie undiszipliniert mit dem Pfälzer Gauleiter Josef Bürckel zerstritten hatte, ließ Himmler den Pfälzer SS-Führer monatelang in der Würzburger Psychiatrie in "Schutzhaft" nehmen. Als er ihn dann gnädig entließ und zum Kommandanten von Dachau machte, stand Eicke in einer "extremen Bewährungssituation" und tat fortan wortwörtlich alles, um seinem "Reichsführer" zu gefallen. Zu Recht bezeichnet Weise derart neofeudale Abhängigkeitsverhältnisse als Schlüssel zum Verständnis der SS (357-358).
Drittens und letztens versteht es Weise, der Falle der biografischen Teleologie zu entgehen. Er schreibt Eickes Biografie nie von ihrem Ende her und vermeidet es, frühe Geschehnisse als vermeintlich evidente Wurzeln späterer Entwicklungen zu deuten. Vielmehr macht Weise deutlich, dass viele Wendungen in Eickes verbrecherischer Karriere wie zum Beispiel sein früher Aufstieg in der SS (118) oder seine Versetzung nach Dachau (220) letztlich von Zufällen abhängig waren. Theodor Eicke war ebenso wenig wie unzählige andere deutsche Männer dazu prädestiniert ein fanatischer NS-Verbrecher zu werden. Aber wie so viele andere ließ er sich verführen, ergriff die Chancen, die sich ihm in der "Bewegung" boten, und warf als fanatischer Nationalsozialist und "treuer" SS-Mann schließlich alle Skrupel über Bord.
Anmerkungen:
[1] Johannes Tuchel: Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der "Inspektion der Konzentrationslager" 1934-1938, Boppard 1991; Johannes Tuchel (Hg.): Die Inspektion der Konzentrationslager. Das System des Terrors 1938-1945, Berlin 1994; Charles W. Sydnor: Soldaten des Todes. Die 3. SS-Division "Totenkopf" 1933-1945, Paderborn 32003.
[2] Beispielsweise erteilt Weise der Vorstellung, Eicke sei ein Psychopath gewesen, auf Seite 179 eine ebenso knappe wie apodiktische Absage. Die umfangreiche Begründung liefert er erst acht Seiten später nach. Des Weiteren irritieren die verstreuten Passagen zu Eicke als "Erzieher" der KZ- und Totenkopf-SS (201-206, 233-237). So treten bisweilen Redundanzen und Doppelungen auf.
[3] Vgl. Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 31996, 112ff.
Bastian Hein