Rezension über:

Simon Esmonde Cleary: The Roman West, AD 200-500. An Archaeological Study, Cambridge: Cambridge University Press 2013, XV + 533 S., ISBN 978-0-521-19649-9, GBP 75,00
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Rezension von:
Sebastian Brather
Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Brather: Rezension von: Simon Esmonde Cleary: The Roman West, AD 200-500. An Archaeological Study, Cambridge: Cambridge University Press 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 1 [15.01.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/01/23169.html


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Simon Esmonde Cleary: The Roman West, AD 200-500

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Weshalb dieses Buch, fragt Esmonde Cleary selbst zu Beginn. Die Antwort lautet: weil das Thema bislang nicht hinreichend zusammenfassend behandelt worden ist. Es liegt eine Reihe von Neuerscheinungen zur Spätantike vor, doch hauptsächlich aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive. Archäologische Monographien konzentrieren sich auf bestimmte Aspekte: Ellen Swift (2000) auf Kleidung und Identität, Richard Reece (1999) auf die Sachkultur der römischen Elite, und Jeremy Knight (1999) auf das frühe Christentum. Ziel von Cleary ist es, einen breiten Überblick über die Interpretationsmöglichkeiten der (provinzial)römischen Archäologie der Spätantike zu bieten und dabei die Textzeugnisse einzubeziehen.

Geographisch wird der "römische Westen" einschließlich Britannien, Gallien und Iberischer Halbinsel zwischen der Straße von Gibraltar und dem Rhein behandelt; die zeitliche Abgrenzung beruht auf archäologischen Kriterien. Die Jahrzehnte um 200 und um 500 mit einem raschen Wandel schlössen eine längere Zeit recht stabiler Verhältnisse ein, wobei sich verschiedene Rhythmen im Sinne der Annales erkennen lassen. Regionale Unterschiede spielten eine wichtige Rolle im römischen Reich und verstärkten sich seit dem späten 3. Jahrhundert deutlich. Integrativ im Imperium wirkten Politik und Militär, wobei sich die Eliten zunehmend militärisch zeigten, während Desintegration das 4. und 5. Jahrhundert mit der Auflösung zentraler Autoritäten und der Etablierung neuer Identitäten prägte - eine Entwicklung von öffentlicher Macht zu privater Gewalt gewissermaßen. Identität und Materialität sind zwei weitere wichtige Stichworte, mit denen Esmonde Cleary sein Material analysiert. Dass auf fast 500 Seiten Text dennoch nicht alles behandelt werden kann, liegt auf der Hand. Der Forschungsstand bewirkt, dass vor allem der Norden und die Mitte der Iberischen Halbinsel, der Südwesten und Südosten sowie der Norden Galliens, das Moselgebiet und das Rheinland anhand von key sites berücksichtigt sind.

Das Buch ist in zehn Kapitel gegliedert und beginnt mit der "Krise des 3. Jahrhunderts" (Kap. 1). Cleary unterstreicht die oft einseitige Perspektive der Archäologie, wenn sie alle Befunde allein damit verbindet und erklärt. Dennoch hingen vor allem in Nordgallien Umstrukturierungen mit inneren Wirren und äußeren Überfällen zusammen. Im 4. Jahrhundert prägte das Militär diese Zone zwischen Seine und Rhein (Kap. 2), was sich indirekt im Niedergang ländlicher Villen widerspiegelt. Im südlichen Gallien lässt sich dies ebenso wenig beobachten wie das Vorkommen von Gürtelgarnituren und Fibeln in Gräbern. Die Städte - mit Moses Finley eher "parasitär" als ein Motor sozialer Entwicklung - entwickelten sich sehr unterschiedlich (Kap. 3), so dass sich vier Typen unterscheiden lassen: Städte mit wichtigen Beziehungen zum Kaiser (Trier, Arles, Mérida, London?, Metz?), Städte mit deutlichen Kontinuitäten zur hohen Kaiserzeit (in Südgallien, Spanien, Britannien), neue und militarisierte Städte Nordgalliens, und späte "Kleinstädte" (einschließlich befestigter Höhensiedlungen) in Südwestgallien. Vereinfachend können damit "kaiserliche" Städte, die Kontinuität und Tradition betonten, jenen gegenübergestellt werden, die als befestigte Militärstädte mit entsprechendem Habitus gelten müssen. In wirtschaftlicher Hinsicht lag die Rolle der Städte eher im Austausch als in der Produktion.

Obwohl Christen nur eine Minderheit darstellten, gilt lediglich ein Sechstel des Religionskapitels traditionellen Religionen (Kap. 4). Das ist jedoch, wie Esmonde Cleary konstatiert, einerseits quellenbedingt und andererseits dem recht kohärenten Bild des Christentums geschuldet. Vorgeführt werden Kirchen (Genf) und Doppelkirchen (Trier), Baptisterien und Gräber (nun nicht mehr von den Lebenden getrennt), das Erinnern an die Toten (materiell durch Sarkophage, Mausoleen und Grabsteine), die Christenheit von Spanien (Barcelona, Tarragona, Mérida) über Gallien bis zum Rheinland, Kirchen in den Städten und auf dem Lande (vor allem Mausoleen und Grabkirchen in Spanien). Lässt sich also für die frühe Christenheit ein recht klares archäologisches Bild zeichnen, so fehlt für die "Heiden" bislang (von Britannien abgesehen) eine systematische Untersuchung zu Tempeln und Opfern. Die Heiligtümer von Ribemont-sur-Ancre, Châteaubleau und Matagne-la-Grande gehören noch in das 4. Jahrhundert, und es dürfte eine ganze Reihe weiterer Befunde geben.

Unter dem Titel "Kaiser und Aristokraten" handelt Cleary kaiserliche Residenzen (Trier, Arles, Córdoba) ebenso ab wie aristokratische Selbstdarstellung (Carranque, Montréal-Séviac, Montmaurin, São Cucufate), um dann einen Regionalvergleich anzuschließen (Kap. 5). Hervorzuheben sei zum einen die zentrale Bedeutung visueller Medien, um sozialen Status zu präsentieren und zu kommunizieren: Kleidung, Habitus und Raum. Diese Ausdrucksformen der römischen Gesellschaft zu analysieren, bietet der Archäologie große Chancen und rückt die Texte in ein anderes Licht. Zum anderen betont Esmonde Cleary den integrativen Charakter von Aristokratie und Militär, der sich ungeachtet regionaler Variationen im allgemeinen Vokabular (Statusanzeiger), in gemeinsamer Grammatik (Kombinationsmöglichkeiten) und Syntax (paideia) der Erwartungen äußert. Die Kirche übernahm diese visuelle Sprache, zu der - auch im christlichen Verständnis der militia - militärische Aktivitäten gehörten. Um zu zeigen, wie fließend die Identitäten waren, führt Cleary die villa von Mienne-Marboué an, in der sich ein Steleco mit einem Mosaik darstellen ließ - sei er nun germanischer (Name) oder gallorömischer Herkunft (villa) gewesen, was für die Situation jedoch gleichgültig ist.

Die ländliche Besiedlung und Wirtschaft wird, nach einer einleitenden Gegenüberstellung von Villen- und Nicht-Villen-Ökonomie, regional betrachtet (Kap. 6). In Südgallien und auf der Iberischen Halbinsel gab es statt einer Krise des 3. Jahrhunderts Veränderungen der longue durée; die staatlichen annona-Anforderungen gingen zurück, was sich aber in der Tarraconensis nicht abzeichnet. Außerdem wandelten sich nun die Mentalitäten, was sich am Höhepunkt der "klassischen" römischen Stadt im vorangehenden 2./3. Jahrhundert ablesen lässt. Die Zahl der ländlichen Siedlungen sank auf vor der hohen Kaiserzeit erreichte Werte, was man als Stabilisierung nach einer Ressourcenübernutzung begreifen kann. Aus dem mittleren und nördlichen Gallien sind Villen unterschiedlichster Größe (von riesigen wie Haccourt bis kleinen wie Cléry-sur-Somme) gut bekannt, doch fehlen aufgrund des Forschungsinteresses an ihnen hinreichende Aufschlüsse für andere Siedlungsformen. Die Anzahl der Villen ging im Zuge großräumiger struktureller Änderungen ebenfalls zurück, und sie wurden in Nordgallien von offeneren, weniger strukturierten Siedlungen abgelöst - nicht unter dem unmittelbaren Eindruck "germanischer" Überfälle. In Mittelgallien, wo die Landwirtschaft unter direkterer provinzaristokratischer Kontrolle ebenfalls weiterhin hohe Produktivität aufwies, blieben Villen wichtig.

Hinsichtlich der wirtschaftlichen Verhältnisse (Kap. 7) unterscheidet Cleary zwischen überregional integrierender "politischer Ökonomie" und der "Marktwirtschaft" sowie der "Prestigeökonomie" im Kontext von Großgrundbesitz. Münzen werden als integrierender und ermöglichender Mechanismus betrachtet, indem hauptsächlich Billonmünzen staatlicherseits als allgemeine Währung zu Redistributionszwecken in Umlauf gebracht wurden und zugleich Bedeutung für den Marktverkehr besaßen. Daraus ergibt sich ein Zusammenspiel von staatlicher Nachfrage, Münzgeld als "Schmiermittel" städtischen Marktverkehrs und reziprokem Austausch zwischen Aristokraten und Landbewohnern. Aus "Verbraucherperspektive" gab es auch im 3. und 4. Jahrhundert selbst in abgelegenen Gebieten Zugang zu Handwerksprodukten. Auflösung der Reichsstrukturen und die Rolle der "Barbaren" im 5. Jahrhundert (Kap. 8) werden unter folgenden Aspekten behandelt: Ende des römischen Militärs im Westen, spätantike Münzprägung und "Germanen", wobei Westgoten und Franken näher betrachtet sind. Cleary ist mit den Fallstricken "ethnischer Interpretation" bestens vertraut und rückt bei der Untersuchung von Kleidungsbestandteilen, Haus- und Keramik- sowie Glasformen funktionale und soziale Kontexte in den Vordergrund. Was im Fundmaterial sichtbar wird, ist statt einer "Germanisierung" der Zusammenbruch großräumiger Produktions- und Distributionsnetzwerke in den Provinzen. Moderne Verfahren zur Analyse von Isotopen und DNA können ebenfalls nichts zur "Ethnizität" beitragen, wie Esmonde Cleary zu Recht klarstellt. Archäologie und Geschichtswissenschaft besitzen und verfolgen also unterschiedliche Perspektiven, was ihren jeweiligen Ansatz erst legitimiert.

Blickt man auf die Desintegration des westlichen Reichs (Kap. 9), dann besitzen jenseits der historischen "Meistererzählung" archäologische Befunde erhebliche Relevanz. Wie spiegelt sich schwindende Integration lokal wider? Die Reichweiten von Gesellschaften und ihrer Ressourcenversorgung schrumpften, zu erkennen an einem Rückgang archäologischer Funde und ihrer abnehmenden Qualität sowie einfacheren Herstellungs- und Verarbeitungstechnologien. Seit dem 5. Jahrhundert traten Fachwerkbauten an die Stelle von Steingebäuden, was bei älteren Ausgrabungen oft übersehen worden ist, und Dörfer (nucleated settlements) lösten die Villen ab, was ebenso wie in den Städten sich wandelnde Sozialstrukturen anzeigt. Damit sind erhebliche Datierungsprobleme verbunden. Die Beobachtungen für die mediterranen Küstenregionen (Tarragona, Barcelona, Arles, Marseille), Innerspanien (Mérida, Villen) sowie Gallien (Toulouse, Montréal-Séviac, Marolle-sur-Seine), Städte, Aristokratie und ländliche Siedlungen (Congosto, El Bovalar, Lunel Viel, Roc de Pampelune) resümierend, lässt sich um 500 der Umbruch von der römischen zur frühmittelalterlichen Wirtschaft und Sozialstruktur feststellen. So gesehen, war nicht allein ein 300 Jahre währender Wandlungsprozess zu einem Ende gekommen, sondern hatten sich ebenso Form, Bebauung und Funktionen der Städte gewandelt.

Im abschließenden Ausblick (Kap. 10) fragt Esmonde Cleary noch einmal danach, ob sich das 3. bis 5. Jahrhundert sinnvoll als Zeitabschnitt abgrenzen lassen. Beginn "um 200" und Ende "um 500" stellten jeweils einen wichtigen Umbruch dar. Mit dem Beginn des 3. Jahrhunderts fanden 300 Jahre Entwicklung im Kontext römischer Eroberungen in Westeuropa ihr Ende; danach begannen Veränderungen, die (mit Ausnahme der "Christianisierung") regional und zeitlich sowie inhaltlich verschieden abliefen, aber um 500 weiträumig zu ähnlichen Verhältnissen führen sollten. Von 200 bis 500 entwickelten sich neue Identitäten - zunehmend verschieden von traditioneller "römischer" Praxis -, neue Vorstellungen von Religion und sozialer Ordnung sowie neue wirtschaftliche Verhältnisse, so dass sich das "Römersein" deutlich wandelte.

Simon Esmonde Cleary hat einen sehr anregenden Band über den spätrömischen Westen vorgelegt. Sein Wert liegt primär darin, den archäologischen Quellen zu ihrem Recht zu verhelfen und sie nicht als bloße Illustration historiographischer "Meistererzählungen" zu benutzen. Nicht allein archäologische Periodisierungen können und müssen sich daher von historiographischen unterscheiden, sondern auch die quellenbedingten Perspektiven und Interpretationsmöglichkeiten unterscheiden sich. Bemerkenswert sind neben der verarbeiteten Materialfülle (Bibliographie von 40 Seiten) die Berücksichtigung nicht-englischsprachiger (einschließlich deutscher, wenngleich etwa die wichtigen Bücher von Philipp von Rummel zum Habitus barbarus [2007] und von Hubert Fehr zu Germanen und Romanen im Merowingerreich [2010] fehlen) Forschungsliteratur und die sorgfältige, kenntnisreiche Argumentation auf dem aktuellen Stand internationaler Forschung. Insbesondere die schwierigen Fragen nach Ethnizität, Struktur- und Ereignisgeschichte werden souverän abgehandelt und plausibel im Kontext grundlegender struktureller Wandlungen erklärt. Themen und Kapitel sind geschickt aufeinander bezogen und ergeben ein kohärentes Bild, ohne Desiderate und Forschungsprobleme zu übergehen. Zwischen der politischen Situation des 3. und 5. Jahrhunderts sind Siedlungsformen (Städte und Land), Wirtschaft (Handwerk und Landwirtschaft), soziale Gruppen und Habitus (Aristokraten und Militärs) sowie Religion und Politik eingebettet. Souverän verknüpft der Autor archäologische Befunde mit übergreifenden Interpretationen, ohne Komplexitäten zu reduzieren. Die Qualität des Buches zeigt sich auch in Details, etwa der Berücksichtigung antiker Nordseeküstenverläufe bei Fundkartierungen. Seine gewinnbringende Lektüre sei nicht nur Provinzialrömischen, sondern ebenso Frühgeschichtlichen Archäologinnen sowie Althistorikerinnen empfohlen.

Sebastian Brather