Elise Catrain: Hochschule im Überwachungsstaat. Struktur und Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit an der Karl-Marx-Universität Leipzig (1968/69-1981) , Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2013, X + 323 S., ISBN 978-3-86583-725-7, EUR 29,00
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Die Geschichte des Hochschulsystems im SED-Sozialismus erfreut sich anhaltenden wissenschaftlichen Interesses. Befördert durch Universitätsjubiläen sind in den letzten Jahren zahlreiche Gesamtgeschichten erschienen. Diese konnten allerdings nicht alle offene Fragen beantworten. So sind etwa bei den meisten Hochschuleinrichtungen immer noch nicht der konkrete Einfluss des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und dessen Zusammenspiel mit der SED, den staatlichen Leitungen in der Universität sowie der Stasi-Einfluss bei der Studenten- und Mitarbeiterrekrutierung gründlich erforscht. Für die Universitäten in Jena, Halle, Leipzig und Berlin sind dazu in den letzten Jahren zwar mehrere Studien vorgelegt worden, die erste Schneisen schlugen. Fast allen aber ist gemeinsam, dass sie sich dabei sehr stark auf Verfolgungsgeschichten, die Überwachung von Ost-West-Kontakten oder die "Reisekaderproblematik" konzentrieren sowie die Stasi-Strukturen an den Universitäten offen legen. Hinzu kommt, dass nur selten der gesamte Zeitraum von 1949 bis 1989 in den Blick genommen wurde, sondern zumeist nur die Zeit vor oder nach dem Mauerbau. Dafür sind nicht nur Überlieferungslücken verantwortlich, sondern auch eine kaum überschaubare Menge an Quellen, die zudem nicht immer einfach zu erschließen oder aufzufinden ist, zumal die Stasi-Akten bekanntlich für Forschende nicht nach sonst in anderen Archiven üblichen Abläufen selbst recherchiert werden können.
Die Studie von Elise Catrain fügt sich in diese Forschungslandschaft nahtlos ein. Ihre nicht auf den ersten Blick nachvollziehbare zeitliche Eingrenzung auf die Zeit von 1968/69 bis 1981 erläutert sie mit dem Hinweis auf die 3. DDR-Hochschulreform als Ausgangszäsur und das Erstarken der Solidarność in Polen als Endpunkt (was keineswegs nachvollziehbar ist, zumal dies an ihrem Untersuchungsobjekt kaum sichtbare Spuren hinterließ). Sie weist aber auch auf die große Menge des zu verarbeitenden Materials hin, das ihr aus zeit- und arbeitsökonomischen Gründen eine solche zeitliche Beschränkung nahelegte. Eine Gesamtbetrachtung bis 1989 wären indes durchaus machbar gewesen, zumal dann die spannende DDR-Endphase in die Untersuchung hätte Eingang finden und zugleich das Wirken der Stasi nochmals anders hätte konturiert werden können.
Die Autorin geht zunächst auf die hochschulpolitische und strukturelle Entwicklung der Karl-Marx-Universität im gewählten Untersuchungszeitraum ein. Anschließend stellt sie die MfS-Strukturen in der Einrichtung vor. Daran schließt sich eine differenzierte Betrachtung der "Inoffiziellen Mitarbeiter" (IM) des MfS an. Besonders hervorzuheben ist das Kapitel "Offizielle Informationsquellen", in dem Catrain den Verflechtungen von SED, staatlichen Strukturen und MfS nachspürt. Abschließend betrachtet sie die "Überwachung ausländischer Studenten", die sich an der Leipziger Universität im Gegensatz zu anderen DDR-Hochschuleinrichtungen besonders konzentrierten, weil sie hier am Herder-Institut eine Sprach- und Ideologieausbildung erhielten, die überwiegend die Vorbedingung für ein Fachstudium darstellte.
Catrain vertritt zwar die These, das MfS sei in den 1970er Jahren "flächendeckend" an der Universität verankert gewesen und habe eine "flächendeckende" Überwachung gewährleistet. Zugleich relativiert sie diese These aber unfreiwillig, indem sie zeigt, dass das MfS bei Personalentscheidungen oftmals nur eine periphere Rolle spielte. Die Tätigkeit konzentrierte sich auf Präventionsmaßnahmen; die Stasi konnte zugleich aber eine Reihe von "Vorkommnissen" nicht aufdecken, so dass die gesuchten "Täter" nicht gefasst werden konnten. Sie problematisiert nicht, wie die Stasi mit 13 zuständigen hauptamtlichen Mitarbeitern und 90 von ihr ausgewerteten IM-Akten in den gesamten 1970er Jahren (1985 gab es 150 IM an der Universität) eine Institution mit tausenden Mitarbeitern und Studierenden und einer weitverzweigten Struktur hätte überhaupt "flächendeckend" überwachen und "bearbeiten" können. Gerade ihre konkreten Fallbeispiele zeigen, dass die Stasi auch in dieser Institution zwar den Anspruch einer flächendeckenden Tätigkeit hatte, aber ihn hier wie anderswo doch nur punktuell - wenn auch in den wichtigsten Strukturen - umsetzen konnte.
Bei ihrer differenzierten Betrachtung der verschiedenen Stasi-IM-Typen geht sie auf Motivationen, Arbeitserträge u.Ä. ein, übersieht aber dabei, dass einige von ihr vorgestellte IM-Typen selbst nach MfS-Richtlinien nicht zu den klassischen IM zählten und sich dahinter nicht selten gar keine Person verbarg, oder dass es sich bei anderen überwiegend um parteitreue, in staatlichen Führungspositionen befindliche Personen handelte ("Gesellschaftliche Mitarbeiter Sicherheit" GMS), die überwiegend nicht dem "klassischen" IM-Bild entsprachen. Aber Elise Catrain zeigt dennoch gerade in ihren Ausführungen über die IM, wie fruchtbringend es ist, genau hinzuschauen und so zu einer differenzierten Analyse zu kommen.
Insgesamt gibt das Buch einen gut strukturierten Überblick über Teilaspekte des Stasi-Einflusses auf die Universität. Einige Schwächen sind allerdings dennoch nicht zu übersehen. Die Darstellung trägt sehr stark dokumentarischen Charakter: Viele Dokumente werden sehr ausführlich wiedergegeben, Langzitate ersetzen immer wieder die Analyse, so manches hätte sich unter Verweis auf die Forschungsliteratur straffen können. Durch eine weniger proseminaristische Darstellung hätte das Buch an Stringenz gewonnen.
Inhaltlich vergibt die Autorin allerdings auch einiges. Ihre Ausführungen zum eigentlich zentralen Zusammenspiel von SED und MfS an der Universität sind nicht der Rede Wert. Auch dass sie es ziemlich konsequent unterlässt, vergleichend mit Blick auf andere Universitäten das Allgemeine und Besondere der Leipziger Einrichtung herauszuarbeiten, ist unbefriedigend. Und, um einen dritten Punkt zu nennen, dass Catrain das Mitwirken der Stasi an Forschungsvorhaben, zumal an internationalen, nahezu völlig unberücksichtigt lässt, ist merkwürdig und ärgerlich. Überdies thematisiert sie nicht, ob und wie Universitätsangehörige und MfS inhaltlich zusammenarbeiteten (z.B. Gutachten oder beim Bau von "operativer Technik"), was übrigens an allen Hochschulen geschah. Denn hier lag ein Schwerpunkt der Stasitätigkeit an den Universitäten, der mindestens so wichtig war wie die politisch-ideologische Kontrolle der Mitarbeiter und Studierenden oder die Überprüfung der Reisekader.
Insgesamt bleibt ein zwiespältiger Eindruck. Es ist der Autorin gelungen, einen differenzierten Blick auf die Arbeit des MfS an der Karl-Marx-Universität in den 1970er Jahren zu werfen. Aber ebenso beeinträchtigen darstellerische Unzulänglichkeiten, eine zeitlich nicht überzeugende Fokussierung auf die 1970er Jahre sowie eine Reihe übersehener oder unterbelichteter wichtiger Fragen die Qualität der Untersuchung.
Ilko-Sascha Kowalczuk