Michael Gehler / Oliver Dürkop (Hgg.): Deutsche Einigung 1989/1990. Zeitzeugen aus Ost und West im Gespräch, Reinbek: Lau-Verlag 2021, 1838 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-95768-223-9, EUR 48,00
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Revolution und Einheit - 1989 und 1990, das sind Chiffren für tiefgreifende Umbrüche, die längst zur Geschichte geworden sind. Sie sind noch nicht vergangen, aber sie sind Vergangenheit. Vergangen sind sie noch nicht, weil sie immer noch emotional bewegen, weil sie mit Leben gefüllt werden, so lange Zeitzeugen von ihnen noch aus eigener Anschauung berichten können. Zugleich aber sind sie längst zur Vergangenheit geworden. Nicht nur, weil Gegenwarts- und Zukunftsprobleme weitaus drängender sind. Sie sind es auch deshalb, weil sie in Ausschnitten zu Geschichte, zu Geschichtsbildern verdichtet werden. Geschichte ist immer nur eine Teilmenge, eine sehr kleine sogar, dessen, was Vergangenheit ausmacht. Sie wird geformt von Historikern, Journalisten, Politikern, Schulbüchern, Filmen, Romanen, von Zeitzeugen - von allen. Die kleinen Produkte ergeben ein großes Bild, das in sich widersprüchlich und im besten Fall keinesfalls harmonisch ist. Vergangenheit ist zurückliegend, ihre Geschichte jedoch ist nie abgeschlossen. Vergangenheit hat als Geschichte eine spannende Zukunft. Sie wird, aus ganz unterschiedlichen Gründen, immer wieder neu konstruiert, sogar neu erfunden, häufig zur Legitimation benutzt, auch instrumentalisiert.
Der vorliegende voluminöse Band eines bedeutenden Zeithistorikers und eines Journalisten legt Zeugnis davon ab. Die beiden führten in fünfzehn Jahren eine Vielzahl von Interviews mit deutschen Zeitzeugen zur Revolution von 1989 und zur deutschen Einheit von 1990. Es kommen 54 dieser Gespräche zum Abdruck. Die beiden Herausgeber haben nichts weniger als eine Quellenfundgrube geschaffen. Sie agieren nicht als Interpreten der Vergangenheit, so wohl ihre Annahme, sondern bieten mit ihren Interviews 54 verschiedene Sichtweisen auf eine Vergangenheit, die die deutsche und europäische Vergangenheit seit 1989/90 entscheidend prägte. Sind solche Quellensammlungen wirklich so "unschuldig" und "objektiv", wie viele glauben?
Zunächst fällt auf: von den 54 Interviewten sind lediglich drei Frauen (Ingrid Kuschel, Sabine Bergmann-Pohl, Vera Lengsfeld). Das ist eine Bilanz, die keinen Respekt abnötigt. Wenn diese drei Interviews mit Frauen auch noch unter der Überschrift "Eigene Erfahrungen: Frauen in der DDR" subsumiert werden, ist dies an Peinlichkeit kaum zu überbieten. Das wird durch das simple Faktum verstärkt, dass die Revolution von 1989 und die Vereinigung von 1990 in einem besonders hohen Maße von Frauen gestaltet worden sind - und zwar auf allen Ebenen. Nähme man diese Quellensammlung als Grundlage, so müsste ein gegenläufiges (falsches) Fazit gezogen werden.
Wer sich in der Revolutionsgeschichte von 1989/90 auskennt und weiß, dass sie nicht erst am 9. November 1989, als die Menschen in der DDR die Mauer durchbrachen, begann, wundert sich sogleich über die nächste Auffälligkeit dieser Quellenedition. Von den 54 Interviewten sind genau vier als Personen anzusehen, die zu jenen Oppositionellen zählen, die die Revolution lange vor dem 9. November 1989 mit vorbereiteten und trugen (Markus Meckel, Friedrich Schorlemmer, Rainer Eppelmann, Vera Lengsfeld). Die Herausgeber zählen noch zwei, drei zu dieser Kategorie hinzu, weil es sich so eingebürgert hat, weil diese sich ab 1990 unzweifelhaft große Verdienste erarbeiteten und ihnen daher ein Etikett verpasst wird, das logisch erscheint, historisch aber nicht korrekt ist. Aber natürlich lässt sich das auch großzügig interpretieren, dann sind in dem Band nicht nur vier DDR-Oppositionelle vertreten, sondern von den 54 Interviewten zählen insgesamt sieben zum kritischen Milieu in der DDR. Mehr werden es trotzdem nicht.
Anders sieht es mit den staatstragenden Funktionären aus. Zu denen haben die Herausgeber vielleicht keine Affinität, aber die Auswahl verrät viel über ihr Geschichtsbild. Sie interessieren sich weniger für gesellschaftliches, dafür ganz stark für staatliches Handeln, als hänge von diesem allein Wohl und Wehe ab. Jedenfalls finden sich unter den 54 Interviewten 15 SED-Funktionäre, darunter Egon Krenz, Hans Modrow, Gregor Gysi, Günter Schabowski, Wolfgang Berghofer und natürlich auch Stasi-Offiziere. Dieses Verhältnis von Oppositionellen zu führenden SED-Funktionären sagt viel über diesen Band aus.
Noch deutlicher wird es, wenn es um die Herstellung der deutschen Einheit geht. Glaubt man diesem Quellenband, so war es fast nur eine westdeutsche Angelegenheit. Zehn Interviews, die mit ostdeutschen Akteuren geführt worden sind, stehen 23 mit westdeutschen gegenüber. Nun könnte man einwenden, der Einigungsprozess sei so abgelaufen. Dem ist oberflächlich wenig entgegenzusetzen, aber präzise betrachtet, ist das eher Zeitungswissen, das mit den tatsächlichen, höchst komplizierten Aushandlungsprozessen kaum in Einklang zu bringen ist. Und unterhalb staatlicher Einigungsverhandlungen fand der eigentliche Einigungsprozess statt.
Natürlich bieten diese Interviews, egal ob mit SED-Funktionären, DDR-Oppositionellen, damaligen bundesdeutschen Politikern oder Vertretern aus Wirtschaft und Gesellschaft interessante Einsichten. Gleichwohl, nichts davon könnte beanspruchen, hier erstmals so formuliert worden sein. Vielmehr ist das alles bekannt, gerade auch weil die ausgewählten Personen bis auf ganz wenige Ausnahmen, die aber wiederum in die "großen Entwicklungen" aktiv nicht involviert waren, hier nicht erstmals berichten, sondern professionell ihr Programm abspulen, das häufig, teils sehr häufig bereits zu hören war. Daher interessiert die Gesamtanlage des Bandes: Was wollen die Herausgeber eigentlich vermitteln? Deren Aussage könnte lauten: Die Revolution von 1989 siegte, weil die SED-Funktionäre umsichtig handelten, der Anteil der Gesellschaft am Sturz des kommunistischen Regimes ist zu vernachlässigen. Die deutsche Einheit ist das Meisterwerk einer technokratischen und politischen Elite aus dem Westen, die sich redlich mühte und dabei offenbar nur auf wenige ostdeutsche Akteure wie Lothar de Maizière oder Günther Krause wirklich setzen konnte.
So bleibt als Fazit: Der Quellenband offenbart einen erstaunlich antiquierten Blick auf Staat und Gesellschaft 1989/90, er sagt letztlich mehr über die Herausgeber aus als über die historischen Ereignisse. Das wohl Bemerkenswerteste daran ist, dass diese Perspektive auf große Zustimmung stoßen dürfte - in Ost wie West. In fortgeschrittenen Universitätsseminaren hingegen könnte der Band für Methoden- und Quellendebatten herangezogen werden, was freilich voraussetzt, dass die Seminarleiter mehr als Zeitungswissen über die historischen Ereignisse besitzen. Hört sich etwas schräg an, ist es aber nicht.
Ilko-Sascha Kowalczuk