Gunter Hofmann: Willy Brandt. Sozialist - Kanzler - Patriot, München: C.H.Beck 2023, 517 S., 35 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-79875-7, EUR 35,00
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Einige Jahre bereits trug sich der Journalist Gunter Hofmann mit dem Gedanken, seinen Blick auf Willy Brandt niederzuschreiben. Seit den 1970er Jahren beobachtete und analysierte er den Sozialdemokraten. Die Ostpolitik sollte in dem geplanten Buch einen prominenten Platz einnehmen. Russlands Überfall auf die Ukraine und die danach einsetzende, erneute Debatte über die Ostpolitik machten diesen Schwerpunkt unvermeidbar. Aber das Buch ist viel mehr, es ist eine Gesamtdarstellung von Brandts Leben, aber ohne den Anspruch, in die Details zu gehen. Dafür sollte, so sieht es auch Hofmann, weiterhin zu Peter Merseburgers Werk gegriffen werden, das vor über zwanzig Jahren erschien und beinahe doppelt so umfangreich ist. [1] Wo man bei Merseburger erfährt, was wann geschah, widmet sich Hofmann der Frage, warum Brandt sich so positionierte, so handelte. Hofmann will Brandt verstehen, das Rätsel, das Mysterium Brandt auflösen.
In 14 überwiegend chronologisch aufeinander folgenden Kapiteln verfolgt Hofmann Brandts politischen Lebensweg. Ausgangspunkt der Betrachtungen sind in vielen Fällen autobiografische Schriften und zeitgenössische Reden von Brandt, den er in langen Zitaten immer wieder ausführlich zu Wort kommen lässt. Die auch von anderen Autoren genannten Leitfiguren, an denen sich Brandt orientierte, bis er in den 1970er Jahren vollends selbst zu einer solchen wurde, tauchen auch bei Hofmann auf: Julius Leber, Jacob Walcher und Ernst Reuter. Alle drei gerieten immer wieder mit und in ihren Parteien in Konflikte, ob das nun Leber in der SPD war, die SPD und die KPD bei Reuter oder bei Walcher zusätzlich noch die KPD-Opposition, die SAP und die SED. Das hatten sie mit Brandt gemein, wohl nicht zufällig. Aber während Walcher im Zweifel doch dem Sieg der Partei den Vorzug gab, wandten sich Brandt und Reuter früh in ihrem politischen Aufstieg von den "Unbedingten" ab und räumten der Freiheit der Andersdenkenden den Vorrang ein.
Brandts Ablehnung dogmatischen Denkens, die spätestens in den 1940er Jahren erkennbar war, machte aus ihm einen Politiker, der nach außen hin nichts von einem "Macher" hatte. Hofmann trifft diese Einschätzung, wenn er Brandt mit Begriffen wie Ambivalenz, Autonomie, Meister des Ungefähren, Minderheitsdeutscher, Versöhnung, Westler, Zauderer und Zweifel charakterisiert. So hat man es auch schon zuvor gelesen, wenn auch nicht unbedingt unter Verwendung derselben Wörter. In der Fokussierung auf das Verstehen gelingen Hofmann Annäherungen, die über das hinausgehen, was manch frühere Biografien geleistet haben, die eher den Ereignissen und Abläufen gewidmet waren.
Zwei lange Kapitel widmen sich zwei sehr unterschiedlichen Compagnons de route Brandts: Günter Grass und Herbert Wehner. Helmut Schmidt wird zwar ausweislich des Personenregisters häufiger genannt, aber verstreut über die Seiten des Buches. Zu beiden, zu Grass und zu Wehner, war Brandts Verhältnis nicht einfach. Brandt wollte "'links und frei' bleiben [...], von niemandem und nichts abhängig" (346), während Grass und Wehner auf je eigene Art ihn zu steuern versuchten. Grass bombardierte Brandt mit Briefen voller Ratschläge, auf die Brandt einsilbig oder gar nicht reagierte. Zwischen dem Kanzler und dem Fraktionsvorsitzenden tat sich 1973 ein Graben auf, und 1974 war das Verhältnis zerrüttet, als Wehner Brandt nicht zum Verbleib an der Spitze der Regierung aufforderte, sondern ihm sinngemäß mitteilte, es sei ihm egal, ob Brandt zurücktrete oder nicht. Über die Jahre erwuchs daraus bei Brandt die Vermutung, er sei Opfer eines Wehnerschen Komplotts geworden, und Brandts Gefolgsleute machten daraus gar eine Verschwörung, an der zusätzlich Honecker und der KGB beteiligt gewesen sein sollten. Jedenfalls ging Brandt 1990 nicht zu Wehners Begräbnis: Er habe es nicht übers Herz gebracht, gestand er Gunter Hofmann.
Den politisierenden Schriftsteller ertrug Brandt besser, denn von Grass war er nicht abhängig. Ob es wirklich eine "Männerfreundschaft" zwischen beiden war (218), bleibt eine Spekulation. Der Begriff passt so gar nicht zu Brandt - selbst Freundschaften waren rar; außer Egon Bahr, Klaus Harpprecht und Klaus Schütz ist mir aus der Nachkriegszeit niemand bekannt, auf den Brandt dieses Wort münzte. Helmut Schmidt bot Brandt 1959 und 1965 die Freundschaft an, aber dieser ging darauf nicht ein, wie Peter Brandt berichtet.
Gleich zwei Kapitel behandeln die Ostpolitik. "Wandel durch Annäherung" heißt das eine, "Flaschenpost: Ostpolitik" das andere. Mit der Überschrift "Wandel durch Annäherung" tut er Brandt keinen Gefallen. Anders als Egon Bahr und anders als Generationen von Journalisten und Historikern vermied Brandt es konsequent, diese griffige, aber missdeutbare Formel zu verwenden, konnte sie doch so ausgelegt werden, als müsse sich auch der Westen wandeln und dem Osten annähern.
Hofmann will die Ostpolitik gegen Anwürfe des Appeasements oder der Naivität verteidigen. Wer derartige Verurteilungen ausspreche, löse die Ostpolitik "aus ihrem historischen Kontext" (448). Brandt sei klar gewesen, dass der mit seiner Politik beabsichtigte Interessenausgleich nur möglich sei, wenn beide Seiten dazu bereit seien. Der Ausgleich sei etwas ganz anderes als ein Einknicken vor Drohungen: "Nur mit äußerster Standfestigkeit konnte die Freiheit verteidigt werden" (451), resümiert der Autor Brandts Haltung. Abrüstung und "ein nüchterner Befund über die militärischen Kräfteverhältnisse" hätten sich bei Brandt nicht gegenseitig ausgeschlossen (451). Hofmann räumt ein: "'Mein Brandt' hätte sich wohl den Einwand zu Herzen genommen, die Ukraine speziell sei im Schatten der deutschen Russlandpolitik gestanden" (453).
Andere Einschätzungen überraschen hingegen, so die, Brandt sei vor dem Zweiten Weltkrieg ein "Anarcho-Sozialist" gewesen. Darüber lässt sich trefflich streiten, nicht hingegen über außergewöhnlich häufige Flüchtigkeitsfehler und sogar Falschinformationen. Am gravierendsten ist die Behauptung auf Seite 131, die SPD-Reichstagsfraktion habe im März 1933 mehrheitlich Hitlers Ermächtigungsgesetz zugestimmt. Autor und Verlag müssen sich fragen und fragen lassen, wie so etwas im Jahr der 90. Wiederkehr der Abstimmung veröffentlicht werden konnte.
Insgesamt jedoch gelingt Hofmann eine überzeugende Interpretation von Brandts Politik aus dem Blickwinkel heutiger Problemstellungen. Wer der politischen Persönlichkeit Brandts näherkommen möchte, dem sei die Lektüre des Buches sehr angeraten.
Anmerkung:
[1] Peter Merseburger: Willy Brandt 1913-1992. Visionär und Realist, Stuttgart / München 2002.
Bernd Rother