Henriette Asséo / Alain de Toledo / Corry Guttstadt et al. (eds.): Mémorial des Judéo-Espagnols déportés de France, Paris: Association Muestros Dezaparesidos 2019, 720 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-2-9560497-1-5, EUR 29,00
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Unterschied sich das Los der sephardischen Juden in der Shoah vom Schicksal der Aschkenasen? Bedarf es etwa einer gesonderten Erinnerung für die sephardischen Opfer? Diese beiden Fragen durchziehen das schwergewichtige und großformatige Werk "Muestros Dezaparesidos" ("Unsere Toten", eigentlich: "Unsere Vermissten"), das auf Initiative sephardischer Einrichtungen in Frankreich erarbeitet wurde. Es ist eine Verbindung aus Erinnerungsbuch und geschichtswissenschaftlicher Aufarbeitung. Mehrere Aufsätze, allesamt auf dem neuesten Stand der Forschung, beleuchten die judenspanische Welt vor der Shoah, von der Spätphase des Osmanischen Reiches bis zur Niederlassung in Frankreich, die überwiegend nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte. Es schließen sich Beiträge zu den Razzien gegen Juden nach der Besetzung Frankreichs durch die Wehrmacht, über das Problem der Staatsangehörigkeit und schließlich zum Anteil der Sepharden an der Résistance an. Der zweite Teil des Werkes listet auf 250 Seiten 5.300 sephardische Opfer der Shoah auf, die vor der Internierung ihren Lebensmittelpunkt in Frankreich hatten. Angegeben werden (sofern möglich) die Geburtsdaten und -orte, die Staatsangehörigkeit, die letzte Wohnadresse und das Internierungslager in Frankreich. Über die Nummer des Deportationszuges, die ebenfalls verzeichnet ist, lässt sich ablesen, in welches deutsche Vernichtungslager sie verbracht wurden. Schließlich erfährt man auch, wer überlebte bzw. wem die Flucht gelang. Gesonderte Listen erfassen die sephardischen Juden, die bereits in französischen Lagern starben, die hingerichtet wurden und die etwa 800, die Résistancekämpfer waren. Sowohl die Aufsätze als auch die Listen werden immer wieder durch die Schilderung individueller Schicksale und Fotos ergänzt.
Die Nationalsozialisten unterschieden bei ihrer Verfolgung und Ermordung der Juden nicht zwischen Aschkenasen und Sepharden; ihnen dürften diese beiden unterschiedlichen Gruppen meist nicht einmal bekannt gewesen sein. Darauf verweisen auch die Autorinnen und Autoren wiederholt. Aber innerhalb des Judentums konstituierten Sepharden und Aschkenasen zwei Gruppen mit Unterschieden hinsichtlich der Sprache, der religiösen Praxis, der Küche und nicht zuletzt der geografischen Verteilung. Als weltliche Sprache dominierte bei den einen Jiddisch, bei den anderen Judenspanisch. Allein schon der linguistische Unterschied wirkte sich auf das Schicksal in der Shoah aus: Wer Jiddisch sprach, brauchte keine Deutschkenntnisse, um die wesentlichen Befehle der NS-Schergen zu verstehen. Wessen Muttersprache Judenspanisch war und wer mit der deutschen Sprache keinerlei Kontakt hatte, konnte mit den Anordnungen nichts anfangen, war hilflos und abhängig von der Auskunft von Mithäftlingen. Aber auch hier fehlte oft die Brücke: In welcher Sprache konnten sephardische Hafenarbeiter aus Saloniki mit polnischen Juden aus dem Schtetl kommunizieren? Heute schwer vorstellbar, bezweifelten in manchen Fällen andere Lagerinsassen, dass die Sepharden wirklich Juden waren, wo sie doch kein Jiddisch sprachen. Andererseits zeigt die Statistik, dass dies nicht unbedingt den noch schnelleren Tod mit sich brachte: 6 Prozent der deportierten Sepharden überlebten die Lager gegen 4 Prozent für alle französischen Juden.
Ein weiteres Spezifikum der Sepharden war die Vielzahl von Staatsangehörigkeiten unter ihnen. Gerade die sephardische Gemeinschaft hatte in den Jahrzehnten vor der Shoah eine starke Wanderungsbewegung erlebt, in vielen Fällen aus dem Osmanischen Reich bzw. dessen Nachfolgestaaten nach Frankreich (oder in die Vereinigten Staaten, dem zweiten bevorzugten Ziel). In manchen Familien besaß jeder eine andere Staatsangehörigkeit. Die Mehrzahl der Sepharden in Frankreich besaß 1941 nicht die Staatsbürgerschaft der neuen Heimat, zumal das Vichy-Regime im Jahr zuvor viele Einbürgerungen seit 1927 für nichtig erklärt hatte. Was zuerst nach einem Nachteil aussieht, erwies sich während der Shoah als relativer "Vorteil". Etwa 2.000 Sepharden wurden 1943/44 durch Repatriierung dank ihrer Staatsbürgerschaft gerettet. Ausländische Juden wurden wegen der Furcht des Auswärtigen Amts vor diplomatischen Verwicklungen anfänglich bei den Deportationen ausgelassen. Während mehr als die Hälfte der Deportationen aus Frankreich 1941/42 erfolgten, setzten sie für die meisten Sepharden erst im Jahr darauf ein. Da 1943/44 die Macht der Résistance und die Obstruktion einfacher Französinnen und Franzosen sowie vermehrt auch von Vichy-Beamten stärker war als 1941/42, zudem mehr Zeit zur Flucht oder zum Verstecken zur Verfügung stand, lag die Rate der Überlebenden unter den Sepharden in Frankreich höher als bei den Aschkenasen: 15 Prozent der 35.000 Sepharden überlebten die Shoah nicht, gegen 25 Prozent aller französischen Jüdinnen und Juden. Ein weiterer Grund für den Unterschied war die - so Corry Guttstadt in ihrem Beitrag - bessere kulturelle Integration in die französische Gesellschaft (insbesondere Kenntnis der Sprache).
Großen Wert legen die Autorinnen und Autoren darauf, nicht nur das Schicksal der Opfer zu schildern und sie durch Namensnennung dem Vergessen zu entreißen, sondern auch den sephardischen Widerstand als Teil des Widerstands aller Juden zu ehren. Erste Bemühungen in diese Richtung wurden bereits 1947 unternommen. Damals lautete das Motto "Zakhor!" (Erinnere Dich!). Im Buch werden deshalb zahlreiche sephardische Kämpfer der Résistance porträtiert. Bei manchen wusste man von ihrem Kampf gegen die Besatzer und gegen die Kollaborateure, aber nicht, dass sie Sepharden waren. Es geht den Initiatoren des Werkes auch um die Bewahrung der sephardischen Identität heute und in Zukunft. So wenig sie sich vom Judentum distanzieren, so sehr wollen sie doch auch heute sichtbar sein. Erst seit 2003 erinnert in Auschwitz auch ein Text in Judenspanisch an die Opfer, obgleich doch schon lange galt, dass dies in allen Muttersprachen der Ermordeten erfolgen sollte.
Die Namenslisten der Opfer und der Widerstandskämpfer zu erstellen, stieß auf eine grundsätzliche Schwierigkeit, die mit dem bereits Gesagten zusammenhängt: Wie lässt sich in den Deportationslisten erkennen, wer Sepharde war? Die Autorinnen und Autoren des Werkes nahmen Serge Klarsfelds Aufstellungen der deportierten Juden Frankreichs, die Kartei des Lagers Drancy, auch Listen des spanischen Konsulats in Paris und Unterlagen von Yad Vashem als Grundlage und kombinierten (neben der Nutzung ihrer persönlichen Kenntnisse über Personen bzw. Familien) mehrere Merkmale zur Identifizierung von Sepharden: Typische Namen, Geburtsorte im seinerzeitigen Osmanischen Reich, Staatsangehörigkeiten der Nachfolgestaaten dieses Reichs oder von Ländern, die um die Jahrhundertwende in größerem Stil den Status des Schutzgenossen verliehen hatten (neben Frankreich die Türkei, Ägypten, Spanien etc.). War nur einer der Ehepartner Sepharde, der/die andere Aschkenase, wurden dennoch beide oder die ganze Familie in die Liste aufgenommen.
Das Werk leistet Pionierarbeit sowohl in historiographischer Hinsicht als auch als Memorbuch. Leider erscheint es aber in einer Zeit, in der sich das sephardische Judentum - wenn man nicht, wie es immer wieder fälschlich geschieht, die Mizrachim des Nahen und Mittleren Ostens dazu zählt - in kultureller und linguistischer Auflösung befindet.
Bernd Rother