Clemens Böckmann / Johannes Spohr (Hgg.): Phantastische Gesellschaft. Gespräche über falsche und imaginierte Familiengeschichten zur NS-Verfolgung, Berlin: Neofelis Verlag 2022, 292 S., ISBN 978-3-95808-348-6 , EUR 19,00
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Sie sei sich "sicher, es gibt noch viel mehr Wolfgang Seiberts hier in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland", sagt die Historikerin und Therapeutin Barbara Steiner im Gespräch mit den beiden Herausgebern von "Phantastische Gesellschaft. Gespräche über falsche und imaginierte Familiengeschichten zur NS-Verfolgung". Je nachdem, ob man ihre Einschätzung teilt, wird man das Thema des Buches entweder für gesellschaftlich relevant halten oder als das Problem von einigen wenigen ansehen. Ansonsten werden zu dem Band vor allem diejenigen greifen, die, wie ich, persönlich betroffen sind.
Bis zum Oktober 2018 kannten Wolfgang Seibert nur die Mitglieder norddeutscher jüdischer Gemeinden beziehungsweise Personen, die sich in und um Hamburg gegen Antisemitismus in all seinen Facetten engagieren. Seibert war mehrere Jahre lang Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Pinnebergs, einer politisch sehr aktiven Gemeinde, und er gehört bis heute zur radikalen Linken. Seit 2014 verknüpfte Seibert sein Engagement auch öffentlich mit einer Biografie, die bei dem Vorsitzenden einer Jüdischen Gemeinde nicht überraschte: 1947 in einem Camp für Displaced Persons geboren, aufgewachsen in Frankfurt am Main als Kind und Enkel von Shoah-Überlebenden, die Großeltern "fromme Juden und Anarchisten zugleich". [1]
Doch im Oktober 2018 verkündete der Spiegel in einer groß aufgemachten Geschichte, das sei alles Lüge. Seibert sei weder Jude noch ein Nachkomme von Shoah-Überlebenden. Der Artikel war für Menschen wie mich ein zweifacher Schock: Erstens, weil es verstörend ist, dass ein Mensch sich solch ein Lügenkonstrukt ausdenkt; zweitens, weil die beiden Spiegel-Autoren im Versuch, Seiberts Verhalten zu erklären, antisemitische Vorstellungen bedienten. Es sei um "viel Geld" gegangen, hieß es unter der Überschrift "Der gefühlte Jude", und wer als Jude gelte, sei in Deutschland "unangreifbar". [2] Dass ein Islamist 2011 online eine Morddrohung gegen Seibert ausgesprochen hatte, ignorierte der Spiegel. [3]
Wie nun auch die Recherchen der Herausgeber von "Phantastische Gesellschaft" zeigen, hat Wolfgang Seibert über seine Familiengeschichte die Unwahrheit verbreitet. Sein Großvater Friedrich Seibert war im April 1933 in die NSDAP eingetreten, 1943 kämpfte er auf der Seite NS-Deutschlands. Johannes Spohr ist von dem Fall Seibert persönlich betroffen. Er hatte Veranstaltungen über jüdische und linke Identitäten mit Miklós Klaus Rózsa und Wolfgang Seibert organisiert und moderiert. 2017 war daraus der Sammelband "Verheerende Bilanz: Der Antisemitismus der Linken" entstanden. [4]
Seibert ist kein Einzelfall. Etwas mehr als ein halbes Jahr später deckte der Spiegel auf, dass die Bloggerin Marie Sophie Hingst ebenfalls nicht aus einer Familie von Shoah-Überlebenden stammte. Hingst nahm sich daraufhin das Leben. International bekannt wurde das Phänomen erfundener Shoah-Biografien durch die vermeintlichen Kindheitserinnerungen "Bruchstücke" von Binjamin Wilkomirski - eigentlich Bruno Dössekker -, dessen Lügen in den 1990er-Jahren aufgedeckt wurden. In Norddeutschland spielte das Phänomen erneut eine Rolle, als Peter Loth als angeblicher Nachkomme von Überlebenden im Prozess gegen einen ehemaligen KZ-Wachmann dem Angeklagten im Hamburger Gerichtssaal mit "großer Geste" verzieh. [5]
Böckmann und Spohr analysieren das Phänomen, eine jüdische Familienidentität zu erfinden, nun als Symptom eines weit verbreiteten Wunsches: In ihrem Drang, "sich mit den Opfern zu identifizieren", würden Hingst, Loth, Seibert, Wilkomirski und andere "dem Bedürfnis der breiten Gesellschaft" entsprechen, sich "der historischen Verantwortung zu entziehen" (268). Die Identifikation beginne nicht erst, wenn Personen sich individuell als jemand anderes ausgeben. Die Identifikation fange bereits damit an, im Nachhinein auf der Seite der Überlebenden stehen zu wollen und durch die "Opferzentrierung" der "Auseinandersetzung mit den Täter*innen" auszuweichen, wie der Historiker Stefan Mächler ausführt, der zu dem Fall Wilkomirski geforscht hat (149). Auf diese Funktion des "Gedächtnistheaters" weist auch Max Czollek in "Desintegriert euch!" hin. [6]
Am Fall Wilkomirski-Dössekker lasse sich besonders gut nachvollziehen, wie der Lügner auf der einen Seite und sein Publikum auf der anderen zusammenarbeiten. Wilkomirski-Dössekker lieferte nur "Bruchstücke" aus seiner angeblichen frühkindlichen Erinnerung, und die Leserinnen und Leser füllten "die Lücken" mit eigenem Wissen aus Büchern und dem Geschichtsunterricht auf und wurden so "in einem schöpferisch-aufwühlenden Prozess zu mitleidenden Co-Autor*innen" (127). Der Identifikationswunsch geht folglich mit dem Wunsch einher, nicht alles über die ganze Tragweite der Verbrechen wissen zu wollen. Das sei der Boden, auf dem Fake-Identitäten gedeihen könnten. Der Wunsch nach der perfekten Story zeige sich auf andere Weise auch an der Erwartungshaltung gegenüber den wirklichen Überlebenden der Konzentrationslager. Ihre Geschichten sollen "so perfekt wie möglich" sein, wie es die Historikerin Miriam Rürup ausdrückt. Am besten sollten sie keine Funktionshäftlinge gewesen sein und andere Häftlinge gequält haben, oder sie sollten "besser nicht davon reden" (76).
Der Psychiater Hans Stoffels analysiert die Pseudologie als eine extreme Form einer narzisstischen Störung. Menschen wie Hingst, Seibert oder Wilkomirski lebten "von der Resonanz, die sie bekommen, wenn sie ihre Geschichten erzählen" (112). Die Pädagogin Rosa Fava, Mitarbeiterin der Amadeu-Antonio-Stiftung, unterstreicht noch einmal, was auch im Fall von Wolfgang Seibert deutlich zu unterscheiden ist: Die eine Frage ist, ob er Jude ist, die andere, ob er Nachkomme von Shoah-Überlebenden ist. Über die erste Frage sollten, so Fava, nämlich allein die jüdischen Gemeinden entscheiden - trotz öffentlicher Debatten in jüngerer Zeit. [7] Seibert ist im Übrigen über seinen Rückzug als Gemeindevorsteher hinaus weiterhin Mitglied der jüdischen Gemeinde. Erst die zweite Frage hat eine gewisse gesellschaftliche Relevanz, sobald Personen mit einer erfundenen Biografie an die Öffentlichkeit gehen.
Es ist ein kluger Zug, in dem Band vor allem andere zu Wort kommen zu lassen, die aus verschiedenen Professionen und Perspektiven auf die Fälle solcher Fake Survivors schauen. Allerdings bleiben nach der Lektüre von "Phantastische Gesellschaft" viele Fragen offen, weil eben nicht bekannt ist, ob es noch "viel mehr Wolfgang Seiberts" gebe, wie Barbara Steiner vermutet (85). Ob solche Personen sich mit Absicht und kalkuliert eine falsche Identität aneignen oder selbst glauben, was sie behaupten, wird man erst dann erfahren, wenn sie selbst ihr Verhalten selbstkritisch aufarbeiten. Bis dahin sind alle anderen letztlich auf Spekulationen angewiesen.
Es ist gut, dass zu Beginn mit Miklós Klaus Rózsa einer der wenigen wirklich Leidtragenden zu Wort kommt. Rózsas bewegende Lebensgeschichte kennen die meisten Menschen in Deutschland erst seit den gemeinsamen Auftritten mit Wolfgang Seibert, und es ist eine Schande, dass seine Biografie durch den Fall Seibert in ein schlechtes Licht gerückt wird. Letztlich ist es ein schwacher Trost, dass solche Fälle zwar politisch benutzt werden, aber nicht dazu dienen, irgendein politisches Spektrum im Ganzen zu diskreditieren. Menschen, die sich als Nachkommen von Shoah-Überlebenden oder Jüdinnen und Juden ausgeben, gibt es in jeder Szene. Zum Beispiel Irena Wachendorff, die sich bei ihrer Israel-Feindschaft auf ihre angebliche Herkunft berief. Oder Edith Lutz, die einige Monate nach der berüchtigten Gaza-Flotille 2010 mit einem anderen Schiff die israelische Seeblockade durchbrechen wollte und sich als Jüdin präsentierte.[8]
Anmerkungen:
[1] Johannes Spohr: Verheerende Bilanz. Der Antisemitismus der Linken. Klaus Rózsa und Wolfgang Seibert zwischen Abkehr, kritischer Distanz und Aktivismus, Berlin 2017, 35.
[2] Der Spiegel vom 19.10.2018: "Der gefühlte Jude. Ein Hochstapler und seine unglaubliche Karriere" (Martin Doerry/Moritz Gerlach); https://www.spiegel.de/panorama/wolfgang-seibert-ein-hochstapler-und-seine-unglaubliche-karriere-a-00000000-0002-0001-0000-000160085885 [12.9.2022].
[3] Vgl. Tagesspiegel vom 24.01.2011: "Leiter der Jüdischen Gemeinde von Islamisten bedroht"; https://www.tagesspiegel.de/politik/leiter-der-judischen-gemeinde-von-islamisten-bedroht-6462505.html [12.9.2022].
[4] Spohr: Verheerende Bilanz.
[5] Der Spiegel vom 27.12.2019: "Prozess gegen SS-Wachmann. Nebenkläger mit falschem Lebenslauf"; https://www.spiegel.de/panorama/justiz/ss-mann-bruno-d-nebenklaeger-peter-loth-mit-falschem-lebenslauf-a-1302887.html [12.9.2022].
[6] Max Czollek: Desintegriert euch!, München 2018, 24.
[7] Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.09.2021: "Wer Jude ist, bestimme ich"; https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/wer-sich-jude-nennen-darf-ein-gastbeitrag-zum-judentum-17511971.html [12.9.2022].
[8] Mit Bezug auf das besprochene Buch war in der ersten Fassung bei "Sehepunkte" zu lesen, Irena Wachendorff sei auf der berüchtigten Gaza-Flotille gewesen. Dabei handelt es sich vermutlich um eine Verwechslung. Wachendorff ist, wie Julius Schoeps schreibt, mehrfach durch "heftig vorgetragene Israelkritik" aufgefallen und hat sich zu Unrecht als Tochter von Shoah-Überlebenden ausgegeben. (Julius H. Schoeps: Eine deutsche Krankheit. Von der Sehnsucht und dem drängenden Verlangen, ein "jüdisches" Opfer zu sein, https://www.compass-infodienst.de/Julius-H-Schoeps-Eine-deutsche-Krankheit.17487.0.html) Edith Lutz war auch nicht auf der "Mavi Marmara". Aber mit einem anderen Schiff namens "Irene" versuchte sie mit weiteren Aktivistinnen und Aktivisten die israelische Blockade des Seewegs zum Gaza-Streifen zu durchbrechen. Lutz hat sich als Jüdin ausgegeben. (Detlef David Kauschke: Unter jüdischer Flagge. Die Initiatorin eines Hilfsschiffs gerät ins Zwielicht, https://www.juedische-allgemeine.de/politik/unter-juedischer-flagge/).
Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag wurde am 27. Oktober 2022 von der Redaktion auf Wunsch des Rezensenten geändert, um einen sachlichen Fehler zu berichtigen. Näheres dazu in Fußnote 8.
Olaf Kistenmacher