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Johannes Spohr: Die Ukraine 1943/44. Loyalitäten und Gewalt im Kontext der Kriegswende, Berlin: Metropol 2021, 558 S., E-BOOK, ISBN 978-3-86331-600-6, EUR 27,00
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Rezension von:
Tobias Wals
Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Wals: Rezension von: Johannes Spohr: Die Ukraine 1943/44. Loyalitäten und Gewalt im Kontext der Kriegswende, Berlin: Metropol 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 4 [15.04.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/04/36709.html


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Johannes Spohr: Die Ukraine 1943/44

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Die deutsche Besatzung der Ukraine im Zweiten Weltkrieg dauerte mehr als drei Jahre -vom Anfang des Unternehmens "Barbarossa" am 22. Juni 1941 bis zur sowjetischen Großoffensive "Bagration" im Sommer 1944. Doch wenn man die stetig wachsende Literatur zu diesem Thema durchblättert, dann fällt auf, dass sich die meisten Studien vorwiegend mit den Jahren 1941 und 1942 befassen. Der Wissensstand über die übrigen eineinhalb Jahre ist fragmentarischer und diffuser. Ein Grund dafür ist die Quellenlage: Nach der Niederlage bei Stalingrad verzichteten die deutschen Instanzen zunehmend auf eine ordentliche Aktenführung. Ein anderer Grund ist wohl die "Ereignisdichte" der Anfangsjahre. 1941/42 wurden nicht nur Verwaltungs- und Sicherheitsstrukturen aufgebaut, sondern es wurde auch die nahezu vollständige Vernichtung der jüdischen Bevölkerung vollzogen - eine Tatsache, die verstärkte wissenschaftliche Aufmerksamkeit verständlicher macht.

Dennoch ging die verheerende Gewalt nicht zu Ende, und schon aus diesem Grund ist es lobenswert, dass Johannes Spohr den Schwerpunkt seiner Untersuchung auf die Jahre 1943/44 legt. In diesem Buch, das auf seiner im Sommer 2020 verteidigten Dissertation basiert, geht Spohr der Frage nach, wie sich die deutsche Besatzungspolitik angesichts von Rückzug und Verlusten entwickelte und wie sich diese Entwicklung auf die einheimische Bevölkerung auswirkte. Er konzentriert sich dabei auf den "Generalbezirk Shitomir" rund um die Städte Žytomyr und Vinnycja, weitet den Blick aber gelegentlich auch auf den Rest der Ukraine und darüber hinaus.

Die Grundlinie lässt sich bündig zusammenfassen: Die Besatzung wurde immer brutaler, und die Bevölkerung wandte sich nach und nach gegen die Besatzer. Soweit schließt Spohr sich vorherigen Forschungen an. Er versucht aber, diese allgemeine These zu differenzieren, indem er den divergierenden Interessen und Handlungsräumen von Akteurinnen und Akteuren nachgeht. Vor allem die Bevölkerung versucht er, nicht als eine "amorphe Masse" darzustellen, wie das in der klassischen Täterforschung üblich war, sondern sie mit "Namen und Persönlichkeiten" (14) sichtbarer zu machen. Zu diesem Zweck hat er neben Akten viele Ego-Dokumente und - teilweise selbst durchgeführte - Interviews ausgewertet.

Spohr geht die Sache systematisch an. Nach der ausführlichen Einleitung arbeitet er seine Analyse in zwei Kapiteln aus: Das eine beschreibt die unterschiedlichen Akteurinnen und Akteure; das andere dreht sich um Situationen und Vorgänge, in denen diese zusammentrafen. Am Ende folgt ein (kurzes) Kapitel über die langfristigen Folgen des Krieges in der Ukraine sowie über sowjetische Prozesse vor allem gegen (vermeintliche) Kollaborateure.

Im akteurszentrierten Kapitel beschreibt Spohr nahezu alle Gruppen, die im Besatzungsraum anwesend waren, und zwar in dieser Reihenfolge: die Zweige der deutschen Verwaltung; die einheimische deutschstämmige Bevölkerung ("Volksdeutsche"); die sonstige Zivilbevölkerung (mit Schwerpunkt auf ukrainische Dorfbewohnerinnen und -bewohner); jene Schichten der Bevölkerung, die mit den Besetzern zusammenarbeiteten; ukrainische Nationalisten aus der Diaspora; die Partisanenbewegung. Jeder Abschnitt verfolgt die betreffende Gruppe vom Anfang des Krieges (oder gar weiter zurück) bis zum Ende - eine verschachtelte Struktur, die zwar eine genaue Betrachtung der sich wandelnden Stimmungen und Verhältnisse ermöglicht, gleichzeitig aber zwangsläufig zu Wiederholungen führt.

Im nächsten Kapitel gewinnt das Buch an Dynamik, wenn verschiedene Kriegsepisoden näher betrachtet werden - unter anderem der Partisanenkrieg; Raub und Enteignung; das Abbrennen von Dörfern; Massenevakuierungen; Deportation zur Zwangsarbeit; der Überlebungskampf der verbleibenden Jüdinnen und Juden.

Hier zeigt Spohr minutiös, wie die deutschen Besatzer im Zuge von Rückschlägen und in einem immer feindlicheren Umfeld eine Bunkermentalität entwickelten, die ebenso sinnlose wie willkürliche Grausamkeiten gegen die Bevölkerung ermöglichte. Rationale Überlegungen verloren dabei jede Bedeutung, wie sich aus einem deutschen Bericht ergibt, wonach über die abschreckende Wirkung von Vergeltungsaktionen "noch nie etwas bekannt geworden" sei. Eine Einschätzung, die, so stellt Spohr trocken fest, "vor Ort kaum Berücksichtigung fand" (348). Die zutiefst rassistische NS-Ideologie, so behauptet Spohr, sei dabei entscheidend gewesen: "Im Angesicht von Not und Elend siegte kein von der Ideologie befreiter Pragmatismus, sondern im Gegenteil die Rückbesinnung auf die Ideologie, weil sie die passenderen Antworten lieferte und der Verdrängung der Realität Vorschub leistete" (470).

Das Wort, das Spohr für dieses Verhältnis wählt, ist Vereindeutigung, womit er meint, dass die Linie zwischen Freund und Feind immer schärfer gezogen wurde. Nur noch die wenigsten Einheimischen galten als gut; die Mehrheit der Bevölkerung wurde vorgabemäßig als feindlich angesehen. Aufschlussreich ist Spohrs Erkenntnis, das primäre Ziel der deutschen Taktik der verbrannten Erde war es nicht, der Roten Armee entgegenzuwirken, sondern die "Lebensgrundlagen der EinwohnerInnen" zu zerstören (267).

Spohr bemüht sich, die Auswirkungen des Besatzungsregimes auf möglichst viele örtliche Gruppen zu berücksichtigen. Obwohl die Abschnitte über Partisaninnen und Partisanen und jüdische Überlebende solide recherchiert sind, überzeugen die Unterkapitel über das Abbrennen von Dörfern sowie die Evakuierung und Deportation der Bevölkerung deutlich mehr. Besonders wertvoll sind die Beschreibungen deutscher Vergeltungsaktionen aus der Perspektive der Einwohnerinnen und Einwohner. Spohr geht nicht nur auf ihre (beschränkten) Handlungsspielräume ein, sondern auch auf Wiederaufbau, Weiterleben und Erinnerung.

Die Darstellung der deutschen Gewalt macht auf prägnante Weise verständlich, warum sich die Bevölkerung, von einigen Ausnahmen abgesehen, massenhaft nach der deutschen Niederlage sehnte. Zu gleicher Zeit waren aber die Übel der 1930er Jahre nicht vergessen, und manche Ukrainerin und mancher Ukrainer sah der sowjetischen Rückkehr mit gemischten Gefühlen entgegen. Nicht unbegründet: Im abschließenden Kapitel wird klar, dass die Nachkriegsjahre vor allem Armut und weitreichende Verfolgungen brachten. Das Land lag in Schutt und Asche, doch das Regime war vorerst mit der Wiedererrichtung seiner Macht beschäftigt.

Die Verschiebung von Loyalitäten unter der Bevölkerung konzeptualisiert Spohr als Re-Sowjetisierung. Damit meint er, dass sie sich im Angesicht der deutschen Niederlagen und Gewalttaten immer mehr mit den sowjetischen Machthabern zu (re-)identifizieren begann, entweder äußerlich (Flucht in die Partisanenbewegung) oder innerlich. Dieses Konzept überzeugt weniger als die Vereindeutigung von deutscher Seite. Erstens, weil es die unterschiedlichen Stimmungen und Verhältnisse der Bevölkerung unnötig generalisiert; und zweitens, weil es eine Rückkehr zu einem Vorkriegszustand impliziert und der grundsätzlichen Umgestaltung der Sowjetgesellschaft im Folge des Krieges nicht gerecht wird.

Spohrs Geschichte der deutschen Besatzung in der Ukraine nach der Kriegswende ist höchst detailliert, nahezu enzyklopädisch. Die Reichweite von Spohrs Wissen beeindruckt, doch sein Drang zur Vollständigkeit lenkt von seinen Hauptthesen ab. Er bietet den Leserinnen und Lesern eine umständliche Beschreibung (siebzehn Seiten) der ukrainischen Nationalbewegung, die im Weiteren überhaupt keine Rolle spielt. Und eine nur aus der Ferne involvierte Figur wie Alfred Rosenberg bekommt eine eigene Minibiografie (zweieinhalb Seiten). Es stellt sich die Frage, ob der Schwerpunkt dieser Studie nicht besser auf der Beziehungsebene zwischen den deutschen Besatzern und der ukrainischen Zivilbevölkerung hätte gelegt werden sollen, auch wenn eine solche Fokussierung auf Kosten anderer Gruppen gegangen wäre.

Dennoch ist das Buch ein wertvoller Beitrag zur existierenden Literatur über die Besatzung der Ukraine (und andere Teile der Sowjetunion). Es vertieft die Einsicht in die Gewaltspirale in der zweiten Phase der Besatzung und leuchtet aus, wie diese von der Bevölkerung empfunden wurde. Nun ist die Ukraine wiederum Opfer eines Vernichtungskrieges geworden, und manche der Schrecken, die Spohr beschrieben hat, scheinen sich zu wiederholen. So verleiht Putins Krieg dem Buch eine beklemmende Aktualität.

Tobias Wals