Martin Jander / Anetta Kahane (Hgg.): Gesichter der Antimoderne. Gefährdungen demokratischer Kultur in der Bundesrepublik Deutschland (= Interdisziplinäre Antisemitismusforschung; Bd. 12), Baden-Baden: NOMOS 2020, 347 S., ISBN 978-3-8487-6157-9 , EUR 69,00
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Die Geschichte der Moderne ist kein geradliniger Prozess, sondern sie wird, um den berühmten Begriff von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zu zitieren, von einer "Dialektik der Aufklärung" heimgesucht. Entsprechend sind auch antimoderne Strömungen durch Ambivalenz gekennzeichnet. Moishe Postone, ein Vertreter der Kritischen Theorie, hat 1979 verdeutlicht, inwiefern der Nationalsozialismus zugleich als moderne und als antimoderne Bewegung verstanden werden kann. Einerseits habe sich, so Postone, die nationalsozialistische "Revolte gegen die 'Moderne'" nie gegen den technischen Fortschritt oder die industrielle Produktion gerichtet. Andererseits seien "Juden" für die Antisemiten die "Personifikationen der unfaßbaren, zerstörerischen, unendlich mächtigen, internationalen Herrschaft des Kapitals", der modernen Globalisierung, gewesen [1].
Die Anschläge vom 11. September 2001 haben außerdem deutlich gemacht, dass die Konfliktlinien im 21. Jahrhundert zwischen der westlichen Welt und jihadistischen Gruppierungen verlaufen würden, die die Moderne ebenfalls ablehnen, während sie deren technischen Errungenschaften wie das Internet für ihre Propaganda zu nutzen wissen. Insofern ist der von Martin Jander und Anetta Kahane herausgegebene Sammelband ein Buch zur gegenwärtigen Epoche. Im Sinne der Kritischen Theorie schreiben sie, antimoderne Ideologien hätten viele Gesichter. Der Antisemitismus sei das, was "alle verbindet" (11). In seinem abschließenden Beitrag versucht Martin Jander eine inhaltliche Klammer und fordert von den europäischen Staaten, den islamistischen Terrorismus zu bekämpfen, Israel beizustehen, Antisemitismus zurückzudrängen und nicht den Weg der "illiberalen Demokratien" einzuschlagen. Nur dann könne sich Europa als "vereinigte demokratische Republik konstituieren" (334).
Naturgemäß kommen wissenschaftliche Publikationen immer mit Verspätung. So erinnert Samuel Salzborn zu Recht an die verdrängte und verleugnete Geschichte rechten Terrors in der Bundesrepublik Deutschland. Zu den aktuellen rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien wie den Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlands (Pegida) oder der AfD findet sich jedoch in dem hier besprochenen Sammelband relativ wenig. Um die akute Dynamik zwischen Neuer Rechter und der sogenannten bürgerlichen Debatte zu erfassen, reicht der Aufsatz von Stefan Lauer über die Gewalt gegen Geflüchtete nicht aus. Bei Ulrich Schusters Analyse "linker Gewaltverherrlichung" stellt sich außerdem die Frage, wie ein Beitrag, in dem Judenfeindschaft gar nicht thematisiert wird, in das Gesamtkonzept passen soll. Die Beiträge von Alan Posener wiederum, schon von der Länge eher Tageszeitungs- oder Blog-Artikel, genügen schon formal nicht den Anforderungen einer akademischen Publikation. Um zu der starken Meinung zu kommen, "Links- und Rechtsradikalismus" seien durch die "Behauptung einer 'Schuldkultur'" verbunden (264), zieht Posener das Ehepaar Caroline Sommerfeld-Lethen und Helmut Lethen heran (sie, 1975 geboren, gehört seit einigen Jahren zur Neuen Rechten, er, Jahrgang 1939, ist ein alter 68er). Aber sind die Lethens typisch für das Verhältnis von politischer Linker und extremer Rechter?
Es bleibt eben doch ein Unterschied, ob politische Strömungen wie heute AfD oder Pegida lauthals gegen einen "Schuldkult" wettern oder, wie die deutsche Linke nach 1968, unterschwellig von Erinnerungs- und Schuldabwehr geprägt sind. Susanne Bressan zeigt das in ihrem lesenswerten Beitrag anhand der RAF. Schon der Name 'Rote Armee Fraktion' impliziere den Anspruch, in der Tradition der sowjetischen Armee zu stehen und gewissermaßen rückwirkend "Auschwitz befreit" zu haben (184). Um zugleich an der Idee festhalten zu können, durch militante Aktionen in den 1970er Jahren die deutsche Bevölkerung zur Revolution aufstacheln zu können, übertrug die RAF nicht nur die "Idee des Befreiungsnationalismus auf die BRD als zu befreiende Nation" (197), sondern habe schon Nazi-Deutschland "als eine vom US-Imperialismus gesteuerte Macht" dargestellt. 1976 erklärte die RAF: "Es war das antikommunistische Ausrottungsprojekt der Strategen des US-Imperialismus, die Sowjetunion durch die faschistischen Armeen vernichten zu lassen." (196) Das aufzuarbeiten, ist insbesondere für eine politische Linke wichtig, und fraglos war die RAF eine antidemokratische Organisation. Aber war sie auch antimodern?
Eher lässt sich ein kulturpessimistisches Milieu in der Kunstwelt als antimodern charakterisieren. Fabian Bechtle und Leon Kahane zeigen an Künstlern wie Joseph Beuys, wie die Grenzen zwischen emanzipatorischer Linker und völkischer Rechter verschwimmen. Ebenso wichtig ist, dass sie daran erinnern, dass bereits in den 1960er Jahren an der Düsseldorfer Akademie gegen Beuys "wegen seines 'Germanenkultes'" protestiert wurde (89). Dem Kulturpessimismus in der Kunst, heute unter anderem von dem Maler Neo Rauch vertreten, ließe sich sicher ein eigener Sammelband widmen.
Näher an den aktuellen rechtspopulistischen Parteien in Europa und den USA ist Martin Klokes Analyse der evangelikalen Christen, obgleich sein Beitrag auf einem Vortrag vom Januar 2010 basiert. Der christliche Fundamentalismus begründet seine "Solidarität mit Israel" heilsgeschichtlich oder endzeitlich. Kloke weist überzeugend nach, wie schnell und warum die vermeintliche Liebe zum jüdischen Staat sich ins Gegenteil verkehren kann. Der Geschäftsführer der Internationalen Christlichen Botschaft Jerusalem schrieb 2006, das "Recht" der Jüdinnen und Juden, in Israel zu leben, hänge "von dem geistlichen Zustand des Volkes Israel ab" (284).
Die aktuellen populistischen Strömungen werden durch ein diffuses "Wir gegen die da oben"-Gefühl getragen. Populisten von links und rechts schieben die Schuld für reale Probleme wie Flucht und Vertreibung oder die Covid-Pandemie auf äußere Feinde. Deshalb, so die Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung, Anetta Kahane, sei das Jüdische das zentrale Feindbild. Denn im Judentum gebe "es keine Externalisierung des Bösen" (37). Sie unternimmt den riskanten Versuch, die Geschichte der Judenfeindschaft in der Moderne mit der Geschichte der jüdischen Religion und Tradition zu verknüpfen. Sie verbindet das mit einem anderen Problem: In der Erforschung des Antisemitismus seien die Perspektiven von Jüdinnen und Juden lange nicht vorgekommen. Oder wie Natan Sznaider es ausdrückt: "Die Emanzipation verlangte die öffentliche Unsichtbarkeit der Juden." (70) Das ist, bezogen auf den Antisemitismus, die Dialektik der Aufklärung in einem Satz.
Der Sammelband Gesichter der Antimoderne widmet sich einem wichtigen und aktuellen Themenfeld. An sich spräche nichts gegen die Mischung aus akademischen und journalistischen Beiträgen, sie könnte Sammelbände lesbarer machen. Gerade deswegen ist es bedauerlich, dass die akute Bedrohung der demokratischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland durch die Neue Rechte, AfD und Pegida - besonders im Zusammenhang mit den extrem rechten Regierungen in anderen europäischen Staaten und dem Trumpismus in den USA - in den hier zusammengestellten Analysen so wenig Raum einnimmt.
Anmerkung:
[1] Moishe Postone: Antisemitismus und Nationalsozialismus, in: Ders.: Deutschland, die Linke und der Holocaust, Freiburg/Brsg. 2005, 165-194, hier 181 und 190.
Olaf Kistenmacher