Rezension über:

Thomas Nipperdey: Kann Geschichte objektiv sein? Historische Essays. Herausgegeben von Paul Nolte (= Beck'sche Reihe; 6115), München: C.H.Beck 2013, 328 S., ISBN 978-3-406-65377-3, EUR 16,95
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Rezension von:
Sebastian Dörfler
Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Dörfler: Rezension von: Thomas Nipperdey: Kann Geschichte objektiv sein? Historische Essays. Herausgegeben von Paul Nolte, München: C.H.Beck 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 3 [15.03.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/03/23619.html


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Thomas Nipperdey: Kann Geschichte objektiv sein?

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Die "Neuentdeckung" und "Erkundung der Aktualität eines großen Historikers" soll die vorliegende Auswahl historischer Essays anregen (320). Die von Paul Nolte zusammengestellten Aufsätze von Thomas Nipperdey datieren von 1967 bis 1991 und decken somit einen Großteil der Schaffenszeit des 1961 habilitierten und 1992 verstorbenen Professors ab. Sie liefern ein prägnantes Bild von seiner Geschichtsphilosophie und seinem bevorzugen Thema, der "Frage nach politischer Kultur und politischer Mentalität der Deutschen in langer Perspektive, besonders aber zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus" (316).

So beantwortet Nipperdey in "Probleme der Modernisierung in Deutschland" (von 1979) die Gretchenfrage der deutschen Geschichte - warum Hitler? - mit einer speziellen Mentalität: Dem Gefühl der Überforderung durch die in Deutschland besonders rasante Modernisierung ab Ende des 19. Jahrhunderts. Diese habe "traditionelle Sicherheiten aufgelöst, ohne sie durch andere zu ersetzen" (99). Deswegen habe der Nationalsozialismus als "Antimodernisierungsbewegung" bei den Deutschen Erfolg gehabt.

Auch in Studien wie "Grundprobleme der deutschen Parteigeschichte im 19. Jahrhundert" (von 1967), "1933 und die Kontinuität der deutschen Geschichte" (von 1978) und "War die wilhelminische Gesellschaft eine Untertanen-Gesellschaft?" (von 1985) widmet sich Nipperdey historischen Prozessen und Phänomenen, die das Scheitern der Demokratie in Deutschland zu erklären helfen. Entschieden stellt er sich jedoch gegen die Idee des deutschen "Sonderwegs", die das Dritte Reich und den Holocaust als zwangsläufiges Ergebnis einer defizitären, undemokratischen Entwicklung interpretiert, beginnend mit der verpassten Zivilisierung durch die Abwehr Roms im Teutoburger Wald oder spätestens mit dem obrigkeitshörigen Luther.

Nipperdey wirft Vertretern dieses Geschichtsbilds vor, in der deutschen Vergangenheit "nichts als Schuld und Versagen" zu sehen, gemessen "an einem vermeintlich progressiven Ideal" und unter der Perspektive "absoluter Kritik" (68) und hält dagegen: Die Wissenschaft sei nicht kompetent, um "ethisch-politische Probleme zu lösen", die Übertragung "unserer Werte auf fremde Zeiten" ein Anachronismus (71). Nipperdeys Ideal heißt Objektivität. Sie ist eine Norm, die nie ganz erreicht werden kann, wie er im Titel gebenden Essay (von 1979) ausführt, aber zumindest angestrebt werden muss. Sie stellt die Messlatte dar, die "bessere und weniger gute Historie" trennt (75). Der objektive Historiker beurteilt die Vergangenheit aus sich selbst heraus, nicht anhand aktueller Wertmaßstäbe und willkürlich gewählter Ideale. Brillant zeigt der Autor, welch absurde Verzerrungen letzteres provoziert: Gemessen am vermeintlichen Ideal der französischen oder britischen Entwicklung erscheinen deutsche Phänomene wie Reformabsolutismus, fehlende Korruption und Patronage im Parlamentarismus, Sozialpolitik und allgemeines Wahlrecht als Hemmnisse auf dem Weg zur Demokratie (270)!

Für Nipperdey gibt es keine "linearen Entwicklungsmodelle" und keine einfachen Kontinuitätsstränge. Er leugnet nicht, dass es eine "antidemokratische Kontinuität" in Deutschland gegeben hat, zeigt aber, dass sie kein monolithischer Block war, sondern ein disparates Nebeneinander unter anderem von "borussischem Etatismus", "völkischem Nationalismus", "Autoritarismus alter Eliten", der "Tradition des Unpolitischen" und der "höchst politischen Demokratiefeindschaft" (267). Generell würden sich in historischen Entwicklungen verschiedene Kontinuitäten "überlagern und überlappen", die Vergangenheit sei ein "Netzwerk von Vorgeschichten", von denen jede durch die Existenz der anderen "relativiert" werde (275).

Die ambivalenten Entwicklungen und Kontinuitäten münden letztlich in der Offenheit des historischen Prozesses, in einer Fülle von Möglichkeiten. So stockte die politische Modernisierung im Kaiserreich und selbiges wies einerseits "Züge einer Untertanengesellschaft" auf (237). Andererseits war es aber "auch eine Gesellschaft des Rechts", "verbürgerlicht und liberalisiert", und "entwickelte aus sich auch das wachsende Potential einer kommenden Demokratie" (252). Solche Ambivalenzen aufzudecken, sieht Nipperdey als wichtigste Aufgabe des Historikers, dieser müsse der Vergangenheit ihre "offene Zukunft" zurückgeben (80). Hieraus ergibt sich für Nipperdey der "Sinn der Geschichte", ihr Nutzen für die Gesellschaft: Das Wissen um die offene Vergangenheit hält auch die Zukunft "gegen alle Ansprüche von Ideologen und Technokraten" offen (83).

In Zeiten "alternativloser" Politik erscheint dieses Geschichtsbild besonders wertvoll und Nipperdeys vorsichtige, geradlinigen Erklärungen misstrauende Historiografie nötigt großen Respekt ab. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, inwieweit Nipperdey seinen eigenen Idealen wirklich gerecht werden konnte. Bei genauerem Hinsehen fällt auf, wie sehr das "Sonderwegsdenken" (wenn auch als negative Folie) die hier zusammengestellten Essays prägt. Selbst Aufsätze wie "Nationalidee und Nationaldenkmal" (von 1968), "Bürgertum und schöne Künste: Erinnerung an das 19. Jahrhundert" (von 1988) und "Religion und Gesellschaft: Deutschland um 1900" (von 1988) prüfen die "Fortschrittlichkeit" der deutschen (bürgerlichen) Gesellschaft. Trägt ein solch unermüdliches Anrennen gegen ein bestimmtes Geschichtsbild nicht auch zu dessen Zementierung bei? Der "Sonderweg" ist darüber hinaus aber nicht nur negativ präsent. An einer Stelle spricht der Autor ganz selbstverständlich vom "Sonderweg des deutschen politischen Denkens" (263). Ein anderes Mal entwirft Nipperdey selbst Kontinuitätslinien, die bis 1500 zurückreichen, wenn er die Reformation einen wichtigen "Modernisierungsschub" nennt und darauf beharrt, dass auch das oft geschmähte Luthertum "modern" gewesen sei (88).

Der Eindruck, Nipperdey sei selbst ein Stück weit dem von ihm bekämpften Geschichtsbild verpflichtet gewesen, resultiert jedoch nicht aus einer zu einseitigen Auswahl der Essays; es ließen sich noch viele Aufsätze mit ähnlicher Tendenz anführen. Vorzuwerfen ist dem Herausgeber vielmehr, dass er den Blick dafür nicht weiter schärft. Nolte schreibt lediglich, "auch Nipperdey hat ja die Frage nach den Ursachen der nationalsozialistischen Herrschaft umgetrieben" (319). Dies wirkt untertrieben, zumal er in einer früheren Studie explizit davor warnte, Nipperdeys "Selbststilisierung" blind zu vertrauen und aufzeigte, wie dessen "programmatisch auf Kontingenz und Offenheit angelegte, immer wieder gegen 'Strukturzwänge' argumentierende Geschichte dennoch in einen Quasi-Determinismus führt". [1] Darauf hinzuweisen, dass Nipperdey "einerseits" gegen das Sonderwegsdenken anschrieb und dieses "andererseits" gerade dadurch förderte und es teilweise auch selbst verinnerlicht hatte, hätte dem Respekt vor seinem Werk nicht nur keinen Abbruch getan, sondern wäre vermutlich in seinem Sinne gewesen.


Anmerkung:

[1] Paul Nolte: Darstellungsweisen deutscher Geschichte. Erzählstrukturen und "master narratives" bei Nipperdey und Wehler, in: Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, hgg. v. Christoph Conrad / Sebastian Conrad, Göttingen 2002, 236-268, hier 259, Anmerkung 44.

Sebastian Dörfler