Christos Kremmydas / Kathryn Tempest (eds.): Hellenistic Oratory. Continuity and Change, Oxford: Oxford University Press 2013, X + 422 S., ISBN 978-0-19-965431-4, GBP 90,00
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Die groben zeitlichen Grenzen der 'Hellenistischen Rhetorik' werden in diesem Band aus der politischen Geschichte entlehnt (ca. Alexander bis Actium). Allerdings liegt hierin für die antike Rhetorik bereits ein Problem insbesondere am Ende des Zeitraumes. Eine Einleitung von C. Kremmydas und K. Tempest (1-17) umreißt die Hauptfragestellungen und inhaltlichen Schwerpunkte der folgenden Beiträge. Es folgen 14 Studien von ausgewiesenen Fachleuten sowie ein ausgewogenes Schlußwort von G. Shipley. Die Herausgeber erheben trotz ihrer thematisch weit ausgreifenden Studien nicht den Anspruch, ein Handbuch zur hellenistischen Rhetorik vorzulegen. [1] Der Mangel an vollständig überlieferten griechischen Originalreden zwischen dem Ende des 4. und dem 1. Jahrhundert v. Chr. ist überlieferungsgeschichtlich vor allem durch die Kanonbildung (10 Attische Redner) und das attizistische Stilideal bedingt. Entgegen einem verbreiteten Vorurteil stellt er kein beweiskräftiges Indiz für einen Niedergang (oder auch Funktionsverlust) der Rhetorik in der hellenistischen Epoche dar. Dieses Vorurteil wird zu Recht von den Herausgebern als "out of date, Athenocentric, and fallacious" (4) abgelehnt. Auch in der hellenistischen Epoche wurden bedeutende Reden von ihren Verfassern weiterhin 'veröffentlicht', z.B. die erfolgreiche Rede des rhodischen Botschafters Astymedes 167 v. Chr. vor dem römischen Senat. Sowohl in den alten als auch in zahlreichen neu gegründeten Poleis der Epoche (nicht weniger in den Koina und Königreichen) spielte die Rhetorik eine zentrale Rolle. Hellenistische Rhetorik war zugleich "ubiquituous" und "highly sophisticated" (G. Shipley, 364). Es fand kein radikaler Bruch mit der klassischen Rhetorik statt, sondern eine kontinuierliche Evolution.
Im vorliegenden Band werden nicht nur rhetorische und historiographische Werke untersucht, sondern auch rhetorische Einflüsse auf poetische Werke griechischer wie römischer Autoren (Apollonios Rhodios, Theokrit, Menander, Herondas, römische Dramatiker). Dies eröffnet wertvolle Einsichten in die Breitenwirkung der Rhetorik. Es bleibt aber offen, mit welcher Berechtigung gerade diese Autoren und Gattungen berücksichtigt wurden, andere jedoch nicht. Z.B. vermisst man einen Beitrag zu rhetorischen Einflüssen auf die hellenistische Biographie etwa eines Hermippos oder Sotion. Ich konzentriere mich in dieser Besprechung aus Raumgründen auf ausgewählte Beiträge, empfehle aber auch alle anderen als lesenswert. [2]
J. Thornton (Oratory in Polybius' Histories, 21-42) differenziert als die drei wichtigsten Redengattungen im Geschichtswerk des Polybios deliberative speeches, exhortations und ambassador speeches. Wenn wir auch in den Historien keine expliziten Gerichtsreden finden, so kann man doch klar Techniken und Elemente von Anklage- oder Verteidigungsreden in vielen Reden von Feldherren, Politikern oder Gesandten erkennen. Viele Personen der Komödien Menanders (C. Carey, Rhetoric in (the other) Menander, 93-107) zeigen eine "oratorial disposition" (93). Carey sammelt markers für den spielerischen Einsatz traditioneller Rhetorik durch Menander. Da die Zuschauer Menanders mit rhetorischen Mitteln vertraut waren, konnte der Dichter in seinen Komödien oft im Sinne des "code-switching" (94) mit Genregrenzen spielen. Das dramaturgische Funktionieren solcher Szenen beweist, dass rhetorische Techniken in der hellenistischen Welt omnipräsent waren. Bereits mehrfach wurde in der jüngeren Forschung die Annäherung zwischen der Kunst der Performanz der Redner und der spätklassischen-hellenistischen Schauspieler beobachtet (Stichwort: histrionic oratory). Hall bezeichnet die (epideiktische) hellenistische Rhetorik treffend als "part of a larger category of ancient vocal performance" (132). Insbesondere die Mimiamben des Herondas bringen ins Lächerliche übertriebene rhetorische Standardszenen, z.B. Gerichtsverhandlungen, in pantomimischen Schaustellungen auf die Bühne (E. Hall, Rhetorical Actors and Other Versatile Hellenistic Vocalists, 109-136). Dieses Genre wird daher zum Beleg für die "versatile vocalists who could shift easily between rhetorical and theatrical registers" (118).
Fiktive Schulreden, meletai, bilden eine noch zu wenig erforschte Quellengattung zur rhetorischen Ausbildung im Hellenismus. Das Vorurteil gegen diese subliterarische Texte oft über historisch-politische oder juristische Themenvorgaben als rein schülerhaft und schematisch ist nach C. Kremmydas unbegründet (Hellenistic Oratory and the Evidence of Rhetorical Exercise, 139-163). Die hellenistischen meletai zeigen deutlich, wie hoch der Grad der Kontinuität zwischen der spätklassischen und der hellenistischen Rhetorik jedenfalls in den deliberativen Reden war. Auch Kremmydas findet keine überzeugende Antwort auf die Frage, warum diese in unserem papyrologischen Material so stark gegenüber anderen Redegattungen dominieren. A. Chaniotis (Paradoxon, Enargeia, Empathy: Hellenistic Decrees and Hellenistic Oratory, 201-216) weist zu Recht darauf hin, dass die sogenannten narrationes in hellenistischen Inschriften oft im Kern in den Volksversammlungen oder auf Gesandtschaftsreisen gehaltene Reden widerspiegeln. Zahlreiche Inschriftentexte können daher mit Gewinn für das Studium der hellenistischen deliberativen oder epideiktischen Rhetorik noch gründlicher ausgewertet werden. Diese narrationes teilen typische Eigenarten mit dem 'tragischen' Zweig der hellenistischen Historiographie: eine Faszination für Paradoxa bzw. Peripetien, das Bemühen um Enargeia und das Werben um Empatheia beim Leser.
Unter den großen Ciceroreden ist Pro Marcello von 46 v. Chr. besonders gut dazu geeignet, hellenistische Einflüsse auf die römisch-republikanische Rhetorik zu untersuchen (K. Tempest, Hellenistic Oratory at Rome: Cicero's Pro Marcello, 295-318). Bekannte Vorbilder der spätklassisch-hellenistischen Reden an Könige, griechische Lehren zur Epideixis und der Sprache des Euergetismus werden hier meisterhaft transformiert. Caesar als Diktator wird von Cicero zwar nach den Regeln der hellenistischen Reden vor Königen angeredet, zugleich aber auch vorsichtig ermahnt. Cicero hofft, dass der exzellente Redner Caesar das raffinierte Spiel mit griechischen Vorbildern genießen wird. Die Studien schließen mit einem Überblick über die rhetorischen Forschungen zu den Briefen des Paulus und seinen acht Reden in der Apostelgeschichte (S.E. Porter, Hellenistic Oratory and Paul of Tarsus, 319-360). In spätantiken Brieflehren unterschied man nun bis zu 30 verschiedene Brieftypen, während die Einteilung in drei große Redengattungen viel grober blieb und daher für die Paulusbriefe nur bedingt tauglich ist. Ertragreicher als die künftige rhetorische Erforschung der Briefe dürfte diejenige der Paulusreden sein (344-359). Porter unterscheidet drei deliberative (bzw. 'Missionsreden'), eine epideiktische und vier gerichtliche Reden.
Druckfehler sind in dem sorgfältig edierten Band extrem selten. Zusammenfassend kann dieser Band allen an griechisch-römischer Rhetorik und an der hellenistischen Literatur und Kultur Interessierten nachdrücklich empfohlen werden.
Anmerkungen:
[1] Vgl. S.E. Porter (ed.): Handbook of Classical Rhetoric in the Hellenistic Period, Leiden 1997, sowie mehrere Studien in I. Worthington (ed.): Blackwell's Companion to Greek Rhetoric, Oxford 2007 pbk. 2010.
[2] Vgl. das Inhaltsverzeichnis http://bvbr.bib-bvb.de:8991/F?func=service&doc_library=BVB01&local_base=BVB01&doc_number=025766193&line_number=0001&func_code=DB_RECORDS&service_type=MEDIA.
Johannes Engels