Agnes Arndt: Rote Bürger. Eine Milieu- und Beziehungsgeschichte linker Dissidenz in Polen (1956-1976) (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 209), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 288 S., ISBN 978-3-525-37032-2, EUR 54,99
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Wie er mit den Intellektuellen in seinem Umfeld zurechtkomme, fragt die Journalistin Oriana Fallaci in Andrzej Wajdas Filmbiografie den Arbeiterführer Lech Wałęsa. Er habe diesen gegenüber keine Minderwertigkeitsgefühle, antwortet dieser sinngemäß. Sie würden lange und klug diskutieren und kämen dann zu demselben Ergebnis wie er selbst nach nur fünf Minuten. Es ist eine Schlüsselszene des Films. Sie zeigt das Geltungsbedürfnis eines Mannes, der seinen ungewöhnlichen Erfolg selbst nicht recht zu fassen vermochte und dem seine engsten Berater fremd blieben. Es ließe sich diese Szene auch symbolisch verstehen. Denn in der Tat gingen der Solidarność jahrzehntelange Diskussionen voraus, die dann nahezu schlagartig in die größte und wirksamste Oppositionsbewegung im sozialistischen Osteuropa mündeten. Diese Diskussionen, das Milieu, in dem sie geführt wurden, und ihre außerordentliche Wirkung sind das Thema des vorliegenden Buches, das auf eine 2011 an der Freien Universität Berlin angenommene Dissertation zurückgeht. Sie wurde 2012 mit dem wissenschaftlichen Förderpreis des Botschafters der Republik Polen ausgezeichnet.
Der Titel "Rote Bürger" enthält in seiner Spannung bereits die zentrale These. Bürgertum im landläufigen Sinne ist nicht rot. Die dissidentischen Zirkel aber, die sich seit den späten 1950er-Jahren in Warschau um Leszek Kołakowski und das Ehepaar Ossowski, um Jacek Kuroń und Karol Modzelewski, Jan Józef Lipski und Adam Michnik herausbildeten, trugen wesentliche Kennzeichen eines bildungsbürgerlichen Milieus. Sie entstammten den Funktionseliten des stalinistischen Regimes und bildeten selbst eine elitäre soziale und diskursive Gemeinschaft. Sie waren hochgradig intellektuell, in ihrem konstruktiven Verhältnis zum Staat aber keine Intelligenzia im strengen Sinne. Die Anfänge gingen zurück auf den Klub Krzywego Koła, der seit 1955 eine Atmosphäre ungewohnt freier Debatten über gesellschaftspolitische und philosophische Themen herausbildete. Als er 1962 behördlich geschlossen wurde, war der Keim der Dissidenz bereits gelegt. Deren bildungsbürgerliche Formen ließen sich mit einer entschieden linken Orientierung durchaus vereinbaren. Gestützt auf die einschlägigen Schriften insbesondere Kołakowskis, Kurońs und Michniks kann Agnes Arndt nun zeigen, dass der Begriff der (Oktober-)Linken als moralisch aufgeladene Selbstzuschreibung und gemeinsamer Fluchtpunkt fungierte, die in ihrem utopischen Gehalt und dem Streben nach Überwindung der gesellschaftlichen Verhältnisse eine ansonsten heterogene Gemeinschaft verbanden.
Der Abschied vom Revisionismus, der Weg von der Dissidenz zur Opposition, wurde in mehreren Schritten vollzogen. Der Parteiausschluss Kołakowskis 1966 zwang dessen Mitstreiter dazu, ihr Verhältnis zur Partei zu überdenken. Deren antisemitische Kampagne führte im März 1968 dann zum endgültigen Bruch, mit unerwarteten Folgen. Denn im Zusammenbruch ihres bisherigen Selbstverständnisses gelang es den Dissidenten, die Isolation zu überwinden, in der sie ihr Revisionismus bislang gehalten hatte. Schon in der Haft hatten Kuroń und Modzelewski gelernt, ihr Verhältnis zu nationalen Denkmustern zu überdenken. Erste Brücken zur Kirche und zu den katholischen Intellektuellen waren bereits geschlagen, als Michnik wortmächtig für eine umfassende Verständigung warb. Aus der Oktoberlinken, die sich mehr als ein Jahrzehnt über das kritische Potential des "polnischen Oktobers" von 1956 definiert hatte, wurde ihrem eigenen Selbstverständnis nach eine "laikale Linke", die sich so innerhalb einer breiteren Opposition verortete. Das Exil ihrer Mentoren, allen voran Kołakowskis, eröffnete neue Kontakte in den Westen. Innerpolnische Debatten wurden nun auch international beachtet, bedrängte Dissidenten erfuhren moralische und oft auch ganz praktische, materielle Unterstützung, die biografische Brüche durch Haft oder Auswanderung aufzufangen half. Für die linken Debatten des Westens ließen sich die polnischen Oppositionellen jedoch nicht vereinnahmen, fehlte ihnen doch eben jene antibürgerliche Stoßrichtung, welche die globale Studentenbewegung im Westen auszeichnete. Mit der Transnationalisierung der Handlungsbedingungen, so die pointiert formulierte These, vollzog sich eine Renationalisierung programmatischer Denkmuster linker Opposition in Polen. Nicht die grenzüberschreitende Öffnung zum Westen, sondern die Hinwendung zur Kirche und zur Arbeiterschaft verschaffte den Dissidenten jene Autorität und Überzeugungskraft, die den einzigartigen Erfolg der Solidarność erst ermöglichten. Ein Vierteljahrhundert engagierter Diskussionen war notwendig gewesen, um einen Punkt zu erreichen, an dem das Zusammenspiel von spontanem Unmut und durchdachter Führung das Regime in Bedrängnis brachten.
Arndts Studie setzt Maßstäbe in der Erforschung ostmitteleuropäischer Dissidenz. Mehr Milieustudie als Kollektivbiografie, verbindet sie sozial- und ideengeschichtliche Zugänge auf mustergültige Weise und gewinnt daraus klarsichtige Thesen. Dem westlichen Leser erschließt sie die Befunde, welche polnische Zeithistoriker, allen voran Andrzej Friszke, im letzten Jahrzehnt zum Thema vorgelegt haben. Mit ihren Thesen zur bildungsbürgerlichen Milieubildung und zu den transnationalen Bezügen der Dissidenten schlägt sie ihrerseits einen Bogen zu übergreifenden zeitgeschichtlichen Debatten. Im Rückzug aus der Utopie auf die Menschenrechte sieht sie in Polen die Thesen Samuel Moyns zur Entwicklung des globalen Menschenrechtsdiskurses bestätigt. Den Anspruch, eine umfassende Geschichte der polnischen Opposition vorzulegen, kann und will die Arbeit an keiner Stelle erheben. Die unbestrittene Vorreiterrolle der Warschauer linken Dissidenz bleibt dennoch merkwürdig schwach konturiert. Was ihre Helden mit der entstehenden Rechten verband und was sie von dieser trennte, bleibt in der Diskussion intellektueller Öffnung einseitig und blass. Andrzej Czuma, Leszek Moczulski, Aleksander Hall oder Jarosław Kaczyński sind der Autorin keiner Erwähnung wert, Danzig, Krakau oder Lublin bleiben jenseits ihres Horizonts. Derart fokussiert kann sich die Verfasserin der Faszination ihrer Helden nicht gänzlich entziehen. Erst zum Schluss deutet sie kritisch an, dass deren linke, bildungsbürgerliche Prägung auch erklären mag, weshalb sie sich 1989 im Kompromiss mit den alten Eliten zu einer scharfen Lustration nicht verstehen mochten. Das ist jedoch bereits ein anderes Thema, und ohne den Blick auf die Erfahrungen seit dem Kriegsrecht von 1981 nur zum Teil verständlich. Der zentrale Verdienst einer differenzierten Studie des zentralen Milieus polnischer Dissidenz bleibt von solchen Überlegungen jedoch unberührt.
Joachim von Puttkamer