Larry Wolff: Woodrow Wilson and the Reimagining of Eastern Europe, Stanford, CA: Stanford University Press 2020, XI + 286 S., ISBN 978-1-5036-1118-4, USD 90,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Charles Gati (ed.): Zbig. The Strategy and Statecraft of Zbigniew Brzezinski, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2013
Stephan Kieninger: Dynamic Détente. The United States and Europe, 1964-1975, Lanham, MD: Lexington Books 2016
Francis D. Cogliano: Emperor of Liberty. Thomas Jefferson's Foreign Policy, New Haven / London: Yale University Press 2014
Melvyn P. Leffler / Jeffrey W. Legro (eds.): In Uncertain Times. American Foreign Policy after the Berlin Wall and 9/11, Ithaca / London: Cornell University Press 2011
Pia Molitor: Partner in der Führung. Die Deutschlandpolitik der Regierung Bush/Baker als Faktor amerikanischen Machterhalts, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012
Elisabeth Haid: Im Blickfeld zweier Imperien. Galizien in der österreichischen und russischen Presseberichterstattung während des Ersten Weltkriegs (1914-1917), Marburg: Herder-Institut 2019
Mirjam Sprau: Kolyma nach dem GULAG. Entstalinisierung im Magadaner Gebiet 1953-1960, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018
Agnes Arndt: Rote Bürger. Eine Milieu- und Beziehungsgeschichte linker Dissidenz in Polen (1956-1976), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013
Kein amerikanischer Präsident vor oder nach ihm habe sich so sehr für das östliche Europa interessiert und sich so intensiv mit der Region beschäftigt wie Woodrow Wilson, lautet ein Befund des zu besprechenden Buches. Polen, die Tschechoslowakei und der jugoslawische Staat seien seine Herzensangelegenheit gewesen, und seine Vision einer nationalstaatlichen Ordnung im Osten Europas habe sich durchgesetzt. Der viel diskutierten Frage, wie weit Wilson als deren Schöpfer gelten kann, geht Larry Wolff jedoch umsichtig aus dem Weg. Ihn interessieren weniger die Kräfte, welche die neue Ordnung hervorbrachten, als die Ideen und Prinzipien, von denen sich Wilson bei dem Versuch leiten ließ, sie zu gestalten. Es geht ihm darum, wie sich Wilsons mental mapping in geopolitische Kartografie übersetzen ließ (6), wie aus Imagination Wirklichkeit wurde. Einem alten Sujet der Politikgeschichte gewinnt er mit diesem Zugang neue Erkenntnisse ab.
Das Buch ist thematisch aufgebaut. In einem ersten Schritt zeigt der Verfasser, wie Wilsons Blick auf das östliche Europa von seiner Wahrnehmung des Osmanischen Reiches geprägt wurde. Die Empörung des britischen Liberalen William Gladstone über die "Bulgarian Horrors" der Osmanen von 1876 hinterließ bei dem jugendlichen Wilson tiefe Spuren. Kleine slawische Völker, die sich gegen gewaltsame imperiale Herrschaft auflehnten, hatten fortan seine Sympathie. In seiner Wahlkampagne von 1916 tat er es Gladstone gleich und nannte Armenier und Polen als leidende Nationen, die drohender Vernichtung ausgesetzt seien. Ein freies Polen und die Auflösung des Osmanischen Reiches wurden zu frühen Ecksteinen seiner Vision für eine Zeit nach dem Krieg, wie Wilson sie in seinen berühmten 14 Punkten ausbuchstabierte. Den Vorschlag eines amerikanischen Mandats für Konstantinopel, der während der Friedensverhandlungen 1919 zeitweilig auf dem Tisch lag, nahm Wilson allerdings nur zögerlich auf. Die ethnische Vielfalt der Stadt sprach zwar dafür, doch störte ihn der imperiale Gestus. Ethnografische Rechtfertigung und alteuropäische Machtpolitik blockierten einander.
Bezüglich der Habsburgermonarchie war Wilson weniger festgelegt. Welche Schritte von der Idee weitreichender Autonomie ihrer Völker zur völligen Auflösung Österreich-Ungarns führten, ist längst vielfach beschrieben. Doch auch hier hat der Verfasser Neues zu bieten. Er zeigt, wie sehr sich Wilson an der Vorstellung eines anhaltenden Ringens zwischen Sklaverei und Befreiung (emancipation) orientierte und sich so in die Nachfolge Abraham Lincolns stellte. Dieser wiederkehrende Bezug half dem Präsidenten, sein eigenes, situatives Handeln als konsistent zu begreifen und sich selbst als Befreier zu sehen, der nun, da die alte Ordnungsmacht vor seinen Augen zerfallen war, in der Pflicht stand, eine neue Staatenordnung mit all ihren Problemen und Widersprüchen dauerhaft zu gestalten.
Zu Wilsons wichtigsten Stichwortgebern in diesem Prozess gehörten bekanntermaßen der Pole Ignacy Paderewski und der Tscheche Tomáš G. Masaryk. Mit beiden verband ihn eine persönliche Freundschaft. Auch darüber hinaus wurden Freundschaft und Sympathie zu Leitbegriffen in Wilsons Denken. Als tragendes Gerüst einer Staatenwelt, die ohnehin von Gewinnern und Verlierern des Weltkriegs bestimmt wurde, taugten sie allerdings wenig. Dies zeigte sich insbesondere an der Adria, wo mit Italien und dem jugoslawischen Königreich zwei Siegermächte konkurrierten, denen Wilsons Sympathie gleichermaßen galt. Je länger sich der Versuch hinzog, Freundschaft und Prinzipienfestigkeit auf einen Nenner zu bringen, desto deutlicher wurde Wilson bewusst, dass sich das Zeitfenster für seine Neuordnung des östlichen Europas zu schließen begann.
Dies galt schließlich auch für das Verhältnis zu Polen. Denn kaum war das Ziel eines unabhängigen Polens erreicht, stellte sich das Problem seiner Minderheiten. Vertreter des American Jewish Committee und des neu gegründeten American Jewish Congress sensibilisierten den Präsidenten für die Schutzbedürftigkeit der Juden und anderer Minderheiten im östlichen Europa. Die neuen Nationalstaaten brachten Gefahren mit sich, noch dazu, wenn zentrale Akteure im Handstreich vollendete Tatsachen schufen, statt auf Wilsons ordnende Hand zu warten. Die Idee lokaler Plebiszite, die das proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker einleuchtend umzusetzen verstanden, erwies sich bei näherem Hinsehen als hoch problematisch, wenn es um die konkrete Durchführung ging. Den Vorwurf Lloyd Georges, in Oberschlesien unredlich auf das gewünschte Ergebnis zuzusteuern, wies Wilson entrüstet zurück. Der moralische Impuls, der ihn lange getragen hatte, führte ihn hier, nicht zum ersten Mal, an seine Grenzen.
Der Verfasser zeichnet das Bild eines Präsidenten, der sich von der hehren Idee des Selbst-bestimmungsrechts leiten ließ und sich in das Studium von Landkarten vertiefte, durchdrungen von der Überzeugung, dass sich das schwierige Puzzle aus den einzelnen Teilen stimmig zusammensetzen ließe, wenn nur jeweils eine passgenaue Lösung gefunden würde. Dabei ließ er sich gerne umwerben, ebenso wie er sich von Experten umfassend informieren ließ. Hinter all dem stand eine erklärtermaßen technizistische, moderne Idee, um mit den Unfreiheiten der alten Welt für immer zu brechen. Auffällig ist die geringe Beachtung, die Wilson internen Umsturzgefahren schenkte. Eine revolutionäre Bedrohung des östlichen Europas wird nur gelegentlich im Kontext eines möglichen russischen Ausgreifens angesprochen und war offensichtlich nicht Wilsons größte Sorge. Die größte Stärke des Buches liegt darin, dass es Wilsons imaginäre Landkarte nicht als statisch begreift, sondern Dynamiken und teils schwierige Lernprozesse schildert. Es lässt sich auch als Bewegung weg von der hochfliegenden Leitidee nationaler Selbstbestimmung hin zu den ganz praktischen und 1919 im Grunde unlösbaren Problemen lesen, die sich daraus ergaben. Insofern hat der Wolff auch die Geschichte wachsender Einsicht in Ambivalenzen und Widersprüche geschrieben, die einer glatten Übersetzung von mental mapping in geopolitische Kartografie entgegenstanden. Somit ist dies auch eine Geschichte ganz konkreter persönlicher Enttäuschungen und Entfremdungen.
Zum Schluss greift der Verfasser das Bild zweier Ziegenhirten aus der Tatra auf. Die beiden hatten sich im April 1919 zu Fuß auf den Weg nach Paris gemacht, um den mächtigen amerikanischen Präsidenten dazu zu bewegen, dass ihre Heimat zu Polen kommen möge und nicht etwa der Tschechoslowakei zugeschlagen werde. Wilson hatte sich von dem strengen Geruch der Gäste in seinem Wohlwollen nicht beirren lassen, nachmittags dann mit Königin Maria von Rumänien gespeist und gestritten, und die beiden Hirten bald wieder vergessen. Doch an dem Tag, an dem er den Versailler Vertrag unterzeichnete, erinnerte er sich, und ihn plagte ein schlechtes Gewissen. Die anrührende Szene steht sinnbildlich für die Leitthemen des Buches, für die Idee nationaler Selbstbestimmung, die sich in den beiden einfachen Hirten verkörperte und die auf das Wohlwollen eines von außen kommenden Befreiers angewiesen war. Sie steht auch für die Notwendigkeit, unverwirklichte Ansprüche durch geeigneten Minderheitenschutz zu befrieden, für gegenseitige emotionale Zuwendung, aber auch für den Konflikt zwischen zwei Nationen, denen Wilsons Sympathie gleichermaßen gehörte und der sich auch nachträglich nicht ohne weiteres lösen ließ.
Joachim von Puttkamer