Irene Dingel / Herman J. Selderhuis (Hgg.): Calvin und Calvinismus. Europäische Perspektiven (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Abendländische Religionsgeschichte; Bd. 84), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, XIII + 526 S., 43 Abb., ISBN 978-3-525-10106-3, EUR 89,95
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Irene Dingel (Hg.): Der Adiaphoristische Streit (1548-1560), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012
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Irene Dingel / Günther Wartenberg (Hgg.): Georg Major (1502-1574). Ein Theologe der Wittenberger Reformation, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005
Herman J. Selderhuis (Hg.): Calvin Handbuch, Tübingen: Mohr Siebeck 2008
Irene Dingel (Hg.): Reaktionen auf das Augsburger Interim. Der Interimistische Streit (1548-1549), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010
Der hier anzuzeigende Tagungsband gliedert sich mit seinen 26 Beiträgen in drei Teile, deren erster sich der Wirkung Calvins in Europa widmet (1-198), während der zweite das Zusammenspiel von Migration und Kulturwirkungen des Calvinismus in den Blick nimmt (199-312); der dritte Teil beleuchtet Aspekte der Frömmigkeit und Medialität (313-506). Alle drei Teile sind inhaltlich denkbar breit gefächert und die thematischen Übergänge fließend, wie die kursorische Besprechung ausgewählter Studien deutlich machen wird.
Mit Eike Wolgast bietet ein ausgewiesener Kenner der Materie einen historischen Überblick über die Ausbreitung des Reformiertentums, ihre Ursachen und ihre Wirkungen auf dem Boden des Heiligen Römischen Reiches (23-45). Die Darstellung konzentriert sich auf einzelne reformierte Territorien und Obrigkeiten (24-33), ihre Gründe für die Hinwendung zum Calvinismus (33-35) sowie die Formen der obrigkeitlichen Einführung und Durchsetzung desselben (35-43). In den freilich zu diskutierenden argumentativen Bahnen Webers und Troeltschs bescheinigt Wolgast dem Reformiertentum "rationale[] Modernität" (34); diese, die "calvinistische Internationale" (42) und die sich auch institutionell niederschlagende Bildungsaffinität (43) markierten dabei Eigenarten des Reformiertentums auch im Reich und profilierten die Konfession im Gegenüber zu Luthertum und Katholizismus. Doch Wolgast benennt auch Gemeinsamkeiten: So lasse sich bezüglich der Durchsetzung "das Vorgehen des deutschen Staatscalvinismus mit der katholischen Gegenreformation vergleichen" (36). Bei allen Unterschieden nahmen beide Formationen "zeremoniale Änderungen" vor, deren Respektierung sie "notfalls mit Zwang durchsetzten" (ebd.) - eine zu entsprechenden Detailstudien anregende These.
Unter Anwendung der weiten Perspektiven Wolgasts konzentriert sich nun Heiner Lück in seiner Studie auf ein territoriales Beispiel, nämlich auf das Fürstentum Anhalt in seiner zeitweisen dynastisch bedingten Aufteilung (47-65). Dieser nicht nur regionalgeschichtlich erhellende Beitrag fragt nach der verfassungsgeschichtlichen Bedeutung des Calvinismus für das Territorium und zeichnet in diesem Zusammenhang den Übergang Anhalts zum Reformiertentum nach: Durch eingewanderte Eliten, die bildungspolitische Emanzipation vor allem von Sachsen (53f.) und obrigkeitliche Normierungsanstrengungen (54-57) präformiert, sorgte die aus politischen und wirtschaftlichen Gründen lebensnotwendige internationale Orientierung der einzelnen Linien des Herrscherhauses für die Festigung des reformierten Bekenntnisses (57-59; 63). Der Prozess der Durchsetzung wurde flankiert durch legislative Schritte, die zum Motor für verfassungsrechtliche "Verbesserungen bzw. Modernisierungen" (63) wurden und vor allem der Absicherung des konfessionellen Stands der Landesherren dienten (59-62). Dieser Absicherung wurde - man denkt sofort an Wolgasts aufgezeigten Vergleich mit der Gegenreformation - auch durch massive Strafandrohungen Nachdruck verliehen, und zwar für den Fall, dass sich die Bevölkerung den entsprechenden Anordnungen verweigerte (61).
Die am Beispiel Anhalts eröffnete europäische Perspektive nehmen aus verschiedenen Richtungen die auf je eigene Weise hochinteressanten Aufsätze von Raymond A. Mentzer und Matthias Schnettger ein. Mentzers Beitrag (103-114) fragt nach den Faktoren, die den Calvinismus für die Eliten urbaner Zentren Südfrankreichs attraktiv gemacht haben. Argumentativ überzeugend hebt er dazu auf die Laienpartizipation ab. Calvins biblisch fundierte Gemeindeordnung kannte schließlich zwei Ämter, die Laien vorbehalten waren: das Amt der Gemeindeältesten und der Diakonat (105). Beiden wurden in der konsistorialen Leitung und Ausgestaltung des Gemeindelebens weitreichende Kompetenzen eingeräumt (106-111), die ganz bewusst das Gegenmodell zur klerikalen Ordnung der Papstkirche bildeten (108f., 113). Derartige Partizipationsoptionen, die sich in manchen Städten im corps d'Église auch losgelöst vom Konsistorium niederschlugen (111f.), entsprachen eben dem im Spätmittelalter ökonomisch-institutionell gewachsenen Selbstbewusstsein der urbanen Eliten (113f.).
Schnettger wendet sich der Außenperspektive zu, indem er der Wahrnehmung des Calvinismus durch die Papstkirche nachgeht (171-197). Ausgehend von den Hauptinstruktionen dreier Pontifikate an die Nuntien im ausgehenden 16. und frühen 17. Jahrhundert (171f.), zeichnet er die katholische Perspektive auf eine konfessionelle Formation nach, der in der Hierarchie der ausgemachten Ketzereien freilich eine Spitzenposition zukam (175-185). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang vor allem das situations- und ponitfikatsbedingte Wechselspiel von theologisch-institutionell geprägter "Prinzipeintreue" und wirtschaftlich-politisch motiviertem "Pragmatismus" (185-194; Zitate 185). Schnettger erklärt dann selbst: "Spannender als die Einstufung unter die Irrlehren schlimmster Couleur" sei die Tatsache, dass von Seiten des Katholizismus mit der Wahrnehmung des Calvinismus als Häresie "auch divergierende Ordnungsvorstellungen für Staat und Gesellschaft" einhergehen (195; s. auch 184). Spannend ist daran nun aus kirchen- und kulturhistorischer Perspektive vor allem die Konsistenz des Umgangs der römischen Kirche mit Andersdenkenden: Hier werden im Grunde die bereits in der mittelalterlichen Ketzerbekämpfung ausgebildeten Typologien schlicht auf ein reformatorisches Kirchentum angewandt. Bei allem temporären Pragmatismus ist daher auch im Falle des Calvinismus die römische Zielperspektive klar, und die lautete wie schon Jahrhunderte zuvor: Lösung des Problems durch Auslöschung (vgl. 196).
Auch als Zusammenführung der bereits aufgezeigten Aspekte des reformierten Elitenaustauschs und der Internationalität lässt sich die instruktive Studie von Wolf-Friedrich Schäufele zur konfessionellen Migration calvinistischer Theologen und deren Auswirkung auf die akademische Theologie lesen (243-261). In diesem Kontext setzt Schäufele zwei Schwerpunkte: Zum einen nimmt er die aus der Zwangsmigration resultierende Fluktuation als "Personalreserve calvinistischer Universitätstheologie" exemplarisch in den Blick (246-253; Zitat 246). Sodann stellt er heraus, wie sich der personale Fluss auf bestimmte dogmatisch-theologische und philosophische Diskurse auswirkte (253-261): Dadurch, dass aufgrund meist konfessionspolitischer Zwänge mit den Köpfen auch Ideen aus- und einwanderten, intensivierte sich der Austausch theologischer Positionen. Die sich daraus ergebende, nicht selten höchst spannungsgeladene Dynamik sorgte für eine intellektuelle Lebendigkeit, die ihrerseits zur Profilierung des Reformiertentums wesentlich beitrug.
Nicht minder luzide widmet sich Christoph Strohm in seinem Beitrag der calvinistischen Intellektuellenelite, und zwar am Beispiel ausgewählter Juristen (297-312). Vor dem Hintergrund der kritischen Auseinandersetzung der noch bei Wolgast mitschwingenden Modernisierungsthese spürt Strohm den "Kulturwirkungen" (297, 311) des Calvinismus nach, ohne die methodischen Herausforderungen seines Zugriffs auszublenden (300f.). Aus der Notwendigkeit der systematischen Abgrenzung vom kanonischen Recht sowie aus den Zwängen der reichsrechtlich heiklen Lage des Calvinismus ergaben sich signifikante Propria reformiert geprägter Rechtsgelehrter (305-311), die nicht zuletzt der Entwicklung juristischer Fakultäten an protestantischen Universitäten Vorschub leisteten und so deren langfristigen Vorsprung vor katholischen Hochschulen begründeten (311f.).
Wenn sich auch nicht alle Beiträge so anregend ausmachen wie die angeführten, so lohnt es doch, den Tagungsband zur Hand zu nehmen - sei es, je nach Studie, zur Information über den aktuellen Forschungsstand, sei es zur einführenden Orientierung oder gar zur Vertiefung virulenter Fragen zu bestimmten Themenbereichen. Dass sich zudem einzelne Beiträge miteinander (kritisch) ins Gespräch bringen lassen und zur weitergehenden Beschäftigung mit ihrem Gegenstand geradezu aufrufen, macht ihn insgesamt zu einem erfreulichen Forschungsbeitrag - mindestens gleichrangig mit jüngerer Handbuchliteratur.
Christian Volkmar Witt