Martin Cüppers: Walther Rauff - In deutschen Diensten. Vom Naziverbrecher zum BND-Spion (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart; Bd. 24), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2013, 438 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-534-26279-3, EUR 49,90
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Martin Cüppers legt eine Biografie über Walther Rauff vor, der an der Judenvernichtung beteiligt war, nach Lateinamerika floh und dort für den Bundesnachrichtendienst (BND) arbeitete. Cüppers hat für diese überarbeitete Habilitationsschrift die Methode gewählt, akribisch erforschte objektive Kontexte immer näher an das Subjekt Rauff heranzurücken, zu dem es nur unzureichendes Quellenmaterial gibt. Er untersucht Herkunft, Generations- und Geschlechtszugehörigkeit und setzt Rauffs Leben "eng mit den historischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert in Beziehung". Damit will er die Fallstricke der "konstruierten Sinnstiftung" (10) vermeiden, die für herkömmliche Biografien so bezeichnend wie fatal sei.
Rauff stammte aus einem konservativen, deutsch-nationalen Elternhaus. Es zog ihn zur Kriegsmarine, die im Kaiserreich für den deutschen Expansionismus stand und auch in der Weimarer Republik stark nationalistisch gefärbt war. Der "genealogische Einfluss" von Familienangehörigen war bei Rauff stärker als der radikale politische Weg, den viele seiner Generation gingen (397). Mitten in der Weltwirtschaftskrise schied Rauff aus der Marine aus und kam damit einer unehrenhaften Entlassung wegen einer Scheidungsaffäre zuvor. Der SA-Obergruppenführer Dietrich von Jagow vermittelte ihm ein Bewerbungsgespräch beim Sicherheitsdienst der SS. An dieser Stelle formuliert Cüppers eine der Hypothesen, die sich in der Arbeit zu Dutzenden finden und von psychologischer Einfühlung (141) bis zum fiktionalen inneren Monolog oder Dialog reichen (204, 286). Rauff und der Chef des Reichsicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, waren ehemalige Marinesoldaten, beide waren geschieden, was Jagow gegenüber seinen Vorgesetzten, so Cüppers, erwähnt haben wird. Daraus schließt Cüppers, dass Heydrich Rauff "unter seine Fittiche" zu nehmen beschloss. Auf der folgenden Seite des Buches sind aus diesen Vermutungen Fakten geworden (77f., ähnlich 103, 144).
Cüppers argumentiert plausibel, dass Rauffs SS-Karriere eher der Notlage nach dem Abschied von der Marine geschuldet war als seiner Überzeugung. Der Autor schildert schließlich, dass Rauff den Befehl zum Bau von Gaswagen erhielt. An dieser Stelle fügt Cüppers der Biografie Rauffs ein hypothetisches Bekehrungserlebnis bei: "[...] bewusst muss Rauff in der Situation der Auftragsübermittlung im Herbst 1941 entschieden haben, endgültig den Schritt zum verantwortlichen Weltanschauungstäter zu realisieren" (116).
Der Verfasser gibt erstmalig eine systematische Übersicht zu den Gaswagenmorden; er arbeitet an einer Monographie zum Thema. Rauff organisierte im Reichssicherheitshauptamt den Bau von Dutzenden von LKWs, auf die ein Kasten gebaut war, in dem Gefangene mit den Abgasen der Motoren ermordet wurden. Cüppers schätzt die Zahl der Opfer vorsichtig auf 400.000 bis 500.000 Juden, Sinti und Roma, Psychiatriepatienten, andere Zivilisten und sowjetische Soldaten - und somit weit höher, als bisher angenommen. Die Wagen wurden in Ost- und Südosteuropa eingesetzt und waren nicht, wie oft angenommen, die Vorstufe der Gaskammern, sondern funktionierten bis 1944 vor allem an abgelegenen Orten und für kleinere Opfergruppen (139).
Während diese Morde weitergingen, wurde Rauff nach Tunesien beordert. Hier war er für Propaganda, das Anwerben von Kollaborateuren und die dortigen Juden zuständig. Rauffs Nordafrikaeinsatz ("eine Kette von Misserfolgen", 179) endete mit der deutschen Niederlage auf diesem Kriegsschauplatz. Im Mai 1943 wurden Rauff und seine SS-Leute im letzten Moment nach Italien ausgeflogen. In Norditalien war Rauff für das Niederschlagen von Streiks, den geheimdienstlichen Kampf gegen Partisanen und die Deportation der Juden verantwortlich. Der General der Waffen-SS, Karl Wolff, weihte ihn in die Geheimverhandlungen mit den USA ein, die kurz vor Ende des Weltkriegs zu einer deutschen Teilkapitulation in Italien führten. 1945 war Rauff Kriegsgefangener, floh aus dem Lager und lebte bei Freunden und in katholischen Klöstern, bis ihm mit Frau und Söhnen 1948 die Auswanderung nach Syrien gelang. In Syrien betätigte sich Rauff am Aufbau eines Geheimdienstes, musste aber nach einem Militärputsch das Land verlassen. 1949 fuhren die Rauffs nach Italien und reisten von dort nach Ecuador. In dem südamerikanischen Staat konnte Rauff beruflich nicht Fuß fassen. Er freundete sich mit dem späteren chilenischen Diktator Augusto Pinochet an, der in Ecuador einer Militärmission angehörte, und ging dann nach Chile.
1958/59 warb der BND Rauff an. Dieses Kapitel ist die erste systematische Untersuchung dieses Vorgangs. Der Name Rauff (auch beide Söhne arbeiteten für den Dienst) mitsamt seinen SS-Konnotationen war eher eine Empfehlung als ein Hindernis bei der Anwerbung, wie Cüppers darlegt. Rauff hielt sich zu Schulungen durch den BND mehrfach in der Bundesrepublik auf, obwohl ein Haftbefehl gegen ihn vorlag. Er erwies sich letztlich als schlechter, freilich hochbezahlter Agent und wurde abgeschaltet. Die Abschaltung wurde vordatiert (328), denn inzwischen (gemeint ist das Jahr 1962) hatte Deutschland einen Auslieferungsantrag an Chile gestellt, und der BND wollte den Eindruck vermeiden, dass ein in seinem Dienst stehender Verbrecher von der Bundesrepublik zur Strafverfolgung angefordert werde.
Die Frage der Auslieferung zog sich innerhalb der westdeutschen Behörden von 1960 bis 1962 quälend hin. Cüppers stellt "Nachlässigkeit, Inkompetenz und Gleichgültigkeit" und nicht zuletzt sogar eine partiell feststellbare Sympathie für den Täter fest (305). Einiges daran stimmt, aber kann man der deutschen Botschaft und dem Auswärtigen Amt vorwerfen, dass sie versucht haben, den Auslieferungsantrag nach chilenischem Recht juristisch wasserdicht einzureichen? Rauff war 123 Tage lang in Auslieferungshaft, dann wurde der deutsche Antrag abgelehnt.
1972 erbat Simon Wiesenthal von Chiles sozialistischem Präsidenten Salvador Allende die Auslieferung Rauffs. Nach Cüppers rekurrierte Allende in seinem Antwortschreiben an Wiesenthal rein formal auf die Unabhängigkeit der Justiz. Sieht man einmal davon ab, dass in juristischen Dingen kein Weg an der Form vorbeiführt, schlug Allende verklausuliert einen neuen Auslieferungsantrag vor, was Wiesenthal auch so las, Cüppers aber nicht erwähnt. Stattdessen schreibt Cüppers, dass Allende Rauff einfach hätte ausweisen können, ohne im Mindesten auf die damit verbundenen juristischen Schwierigkeiten einzugehen, die Heinz Schneppen in seiner Rauff-Biografie benennt [1].
In dem insgesamt auf schwachen Füßen stehenden Chile-Kapitel schreibt Cüppers von etwas, was Allende "wohlweislich verschwieg": Dieser habe Rauff persönlich gekannt und wiederholt skrupellos mit ihm gesprochen. Allende habe Rauff "im Gespräch unter vier Augen" sogar sein Interesse an einer Betriebsbeteiligung an dessen Konservenfabrik deutlich gemacht (350 f). Das ist ein harter und nicht plausibler Vorwurf, den der Autor nur auf Briefe Rauffs an einen Verwandten in Deutschland stützt. Unter der Diktatur seines alten Freundes Pinochet war Rauff dann sicher. Ein weiteres Auslieferungsbegehren scheiterte erwartungsgemäß. Rauff starb 1984, "im Kern bis zuletzt Nationalsozialist" (378), ohne je für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen worden zu sein.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Cüppers vernachlässigt immer wieder die Quellenkritik, die er in der Einleitung anmahnt. Er zitiert Rauffs Verhöre in Kriegsgefangenschaft und vor einem deutschen Staatsanwalt in der Botschaft in Santiago von 1964, Rauffs Briefe an die Familie, die der Autor verdienstvoller Weise zugänglich macht, und autobiografische Skizzen und Informationen. Cüppers nimmt solche Selbstdarstellungen Rauffs, die in jeweils anderen Gesprächssituationen und Rechtfertigungszwängen entstanden, als enthielten sie verbürgte Tatsachen. Das Selbstverständnis geflohener NS-Täter baut aber auf der Lebenslüge auf, sie seien keine Flüchtlinge, sondern unbesiegte Helden. Das Fluchtland wird bei ihnen zur Behelfsbühne einer permanenten Selbstinszenierung gebrochener Identität. In Briefen, die der BND mitlas, rühmte sich Rauff ominöser Kontakte, um seinen Wert als Quelle zu steigern. Zudem war Rauff "Hartsäufer" (Selbstbezeichnung, 360). Cüppers macht ihn trotz alledem zum Kronzeugen seiner selbst.
Was machte Rauff zum Massenmörder? Nach Cüppers wurde er während des Krieges vom "nachgeordneten Befehlsempfänger zu einem bedeutenden, ideologisch überzeugten Initiativtäter" (203) mit persönlichem Engagement (141), dann zum "Exzesstäter" und Sadisten (398). Er mutierte "vom Opportunisten zum Überzeugungstäter" (209). Aber kann nicht jemand in unterschiedlichen Situationen beides sein? Die Schwerpunktverschiebung vom Antisemitismus in Rauffs SS-Zeit zum Antikommunismus nach 1945, der Bruch von 1945, die Anpassungszwänge der Fluchtländer und die unterschiedlichen Funktionsweisen der Geheimdienste, denen Rauff diente, wären Ansätze zu begründeten Hypothesen statt intuitiven Annäherungen gewesen. Das aber leistet Cüppers in dieser Biografie nicht.
Anmerkung:
[1] Heinz Schneppen: Walther Rauff. Organisator der Gaswagenmorde. Eine Biografie. Berlin 2011, 164.
Dieter Maier