Felix Römer: Die narzisstische Volksgemeinschaft. Theodor Habichts Kampf 1914 bis 1944 (= Die Zeit des Nationalsozialismus), Frankfurt a.M.: S. Fischer 2017, 398 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-10-397284-9, EUR 26,00
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Frontsoldat, Verkäufer in einem Kaufhaus, Gauleiter, Putschführer in Österreich und Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt - das sind nur einige der Lebensstationen von Theodor Habicht. In seinem Buch rückt Felix Römer den weitgehend vergessenen NSDAP-Funktionär, der im Januar 1944 als einer der ranghöchsten Nationalsozialisten den "Heldentod" an der Ostfront starb, in den Mittelpunkt. Das umfangreiche Kriegstagebuch, das Habicht ab September 1940 unter anderem als Kompanie- und Bataillonsführer verfasste, ermöglicht die Rückschau auf seine gesamte politische Karriere. Gleichzeitig treten in den Aufzeichnungen Muster der Selbstdeutung zum Vorschein, die laut Autor auf einen ebenso leistungsorientierten wie destruktiven "Narzissmus" (30) verweisen. Römer erhebt diesen Befund zum methodischen Leitmotiv, indem er Habichts Selbstverliebtheit nicht auf eine persönliche Pathologie reduziert, sondern als historische Mentalität und damit als eigentliches "Funktionsprinzip" (31) des Nationalsozialismus interpretiert. Mit diesem innovativen Erklärungsansatz für die politische wie gesellschaftliche Realität des NS-Staates ist die Studie weitaus mehr, als eine klassische Biografie.
Auch wenn sich Römer - nicht zuletzt durch Einflechtung eines breiten Quellenkorpus - mitunter weit von seinem Protagonisten entfernt, bildet dessen Vita stets den Bezugsrahmen für aufschlussreiche Reflexionen: 1915 meldete sich Habicht mit 17 Jahren zum Kriegsdienst, bevor er 1919 einem Freikorps beitrat. Hauptamtlich wurde er bei der NSDAP tätig, nachdem er als Rädelsführer bei politischen Krawallen seine Anstellung in einem Kaufhaus eines jüdischen Eigentümers verloren hatte. Als Leiter des Nassauer Beobachters und als Ortsgruppenleiter in Wiesbaden bescherte Habicht seiner Partei bald die besten Wahlergebnisse im Reich. Nach der Ernennung zum Führer der Nationalsozialisten in Österreich setzte er seinem Aufstieg durch eigenmächtiges Vorgehen beim gescheiterten Staatsstreich im Juli 1934 vorerst selbst ein Ende. Als Oberbürgermeister von Wittenberg und Koblenz (1937/39) fand er den Weg zurück in die Politik. Die anschließende Berufung ins Auswärtige Amt als Unterstaatssekretär markiert den Zenit von Habichts Karriere. Erneut stolperte er dort über zu hohe Ambitionen - der Rückzug in die Wehrmacht war die Konsequenz.
Dass Römer die Biografie Habichts nicht strikt chronologisch durchdekliniert, unterstreicht die Priorität, Erkenntnisse über die "paternalistische Gesellschaftsordnung" (35) und damit die Herrschaftsstrukturen des Nationalsozialismus insgesamt zu präsentieren. Gleichwohl lassen sich die drei Hauptabschnitte der Arbeit, "Die Kultur des Narzissmus" (II), "Volksgemeinschaft" (III) und "Krieg" (IV) grob der Kampfzeit der NSDAP, den Friedensjahren des "Dritten Reiches" und dem Fronteinsatz Habichts zuordnen. In einem Einleitungsteil (I) kontrastiert der Verfasser Habichts Tagebucheinträge mit aktuellen Tests zur Diagnose von narzisstischen Persönlichkeitsstörungen. Bereits hier wird klar, dass es Römer um die Darstellung "sozialer Normen" und Charakteristika "von Gruppen und Gesellschaften" geht (20). Anhand der narzisstischen Züge der Nationalsozialisten sollen allgemeine Aussagen über die Organisation von Macht innerhalb des Regimes möglich werden. In einem Ausblick (V) beschäftigt er sich mit dem Fortwirken einer im Nationalsozialismus egozentrisch aufgeladenen Gesellschaft über die Zäsur des Jahres 1945 hinweg. Folgen für das politische Klima der frühen Bundesrepublik werden ebenfalls thematisiert. Abschließend liefert der Autor Auszüge aus Habichts Tagebuch - leider nur im Umfang von knapp 30 Seiten.
Die These, dass die Selbstherrlichkeit eines Großteils der Parteifunktionäre der Treibstoff der Diktatur gewesen sei, entfaltet Römer, indem er Spezifika der NS-Machtstruktur mit kollektiven Charaktereigenschaften ihrer Trägerschicht korreliert. Hierzu zählt er die vier Bedingungsfaktoren der generationellen und sozialen Lagerung, die Personalisierung der politischen Kultur und das aristokratische Prinzip. Anhand der Genese der Selbstwahrnehmung der NS-Aktivisten wird deutlich, wie stark die Summe individuellen Geltungsstrebens zunächst die NS-Bewegung als Personenverband konstituierte. Laut Römer übertrugen sich ab 1933 dessen Ausprägungen in Form von Seilschaften, kooperativer Konkurrenz oder polykratischen Konflikten zwangsläufig auf Bürokratie und Staatswesen. Quer zu diesen kausal-linearen Betrachtungen bietet der Autor vertikale Erklärungsmodelle an, indem er ausgehend von der Person Habichts strikt die Mikro- mit der Makroebene verbindet. Diesem methodischen Axiom folgt die gesamte Studie.
Die Vorgehensweise liefert wegweisende Einblicke in die Binnenstruktur des NS-Staates insbesondere in jenen Abschnitten, die sich dem Aufstieg des Nationalsozialismus und seiner Gesellschaftsordnung widmen. Eindrucksvoll gelingt es Römer nachzuzeichnen, wie mannigfaltig und selbstverständlich Maximen eigennütziger Machtausübung und Selbstdarstellung - die bisher für prominente Einzelfälle wie Hitler, Goebbels oder Rosenberg bekannt sind - über die gesamte Parteihierarchie bis zum untersten Funktionär fortwirkten und dort immer kleinere, diadochenartige Autoritätszentren generierten. [1] Habicht wusste, dass unter Hitler nur herrschen konnte, wer eine eigene Hausmacht besaß und den Spielregeln des Voluntarismus folgte. So gestaltete er seine Wiesbadener Ortsgruppe als persönliche Entourage. Bereits in den 1920er Jahren führte er diese wie ein "Ein-Mann-Unternehmen" (73). Ähnliches gilt für die Selbstinszenierung als "Avantgarde" (41) in dem Bewusstsein, als Front- und Freikorpskämpfer zur "Speerspitze des völkischen Revisionismus" (44) zu gehören. Folglich pflegte auch Habicht einen "Nimbus von Authentizität" (46), der den eigenen Führungsanspruch nach außen, aber eben auch nach innen, untermauerte. Ebenso glaubte er, sich als NS-Führungspersönlichkeit von der Masse des Volkes abzuheben, da er in der Kampfzeit seine private Existenz aufs Spiel gesetzt hatte. Und wie so viele andere Funktionäre führte auch Habicht Erfolg auf persönliches Können, Misserfolg ausschließlich auf äußere Umstände zurück. Auf der Grundlage dieser Prämissen macht die Studie plausibel, wie abhängig politisches Geschehen im NS-Regime von den "vielen NS-Fürsten" und ihren Beziehungen untereinander war (66f.). Indem Römer aufzeigt, dass individuelle Ambitionen gezielt für die Volksgemeinschaft instrumentalisiert wurden, gelingt es ihm, bisweilen überzeichnete Widersprüche zwischen Individualitätsvorstellungen und Gemeinschaftsideologie innerhalb der NS-Gesellschaft abzumildern.
In der Wehrmacht waren dem typischen NS-Narzissmus deutlich engere Grenzen gesetzt, weswegen er sich dort eher paternalistisch, etwa in der Inszenierung des Militärs als Familie, offenbarte. Dennoch wird deutlich, dass es weiterhin herausragender "Manager der Gewalt" (222) wie Habicht bedurfte, die den kollektiven Kampfgeist stärkten und so das System stabilisierten. Hier setzt sich die Studie kritisch mit zahlreichen Thesen, beispielsweise über Gewalträume, auseinander [2], wobei deren zu starke Orientierung an asymmetrischen Ereignissen wie Massakern oder Erschießungen und weniger an alltäglichen Kriegssituationen deutlich relativiert wird. Wegweisend für künftige Ansätze dürfte insbesondere Römers Nachweis sein, dass sich die Forschung hinsichtlich Verbrechen bisher zu stark auf die rückwärtigen Gebiete konzentrierte. Demgegenüber besteht bei den Kampftruppen weiterhin Untersuchungsbedarf, unter anderem, weil deren Kontakte zur Zivilbevölkerung deutlich stärker waren, als oftmals angenommen.
Römers Verknüpfung von Strukturgeschichte und Biografie überzeugt, weil es ihm gelingt, etablierte Erklärungsmodelle über die NS-Herrschaft um zahlreiche Facetten, nun vornehmlich auf den unteren und mittleren Ebenen von Partei und Staat, zu bereichern. Dies betrifft den polykratisch-personalisierten Regierungsstil im "Dritten Reich" ebenso wie Ambivalenzen zwischen Masse und Individuum in der Volksgemeinschaft, aber auch das Verhältnis der Nationalsozialisten gegenüber Exponenten des Bürgertums und der Wehrmacht. Zudem zeigt die Studie, wie erkenntnisleitend der Brückenschlag von der Militär- zur Gesellschaftsgeschichte sein kann.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Frank Bajohr / Jürgen Matthäus (Hgg.): Alfred Rosenberg. Die Tagebücher von 1934 bis 1944, Frankfurt am Main 2015, 481 (30. Juli 1943).
[2] Vgl. Jörg Baberowski (Hg.): Gewalträume. Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand, Frankfurt am Main 2012.
Christian Packheiser