Julia Paulus / Marion Röwekamp (Hgg.): Eine Soldatenheimschwester an der Ostfront. Briefwechsel von Annette Schücking mit ihrer Famlie (1941-1943) (= Forschungen zur Regionalgeschichte; Bd. 76), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 653 S., ISBN 978-3-506-78151-2, EUR 64,00
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Anette Schücking (Jahrgang 1920) war von 1941 bis 1942 in Zwiahel in der Ukraine und anschließend bis 1943 im südrussischen Krasnodar als Soldatenheimschwester eingesetzt. Die umfassende Korrespondenz mit ihrer Familie sowie Tagebucheinträge aus dieser Zeit liegen nun in einer kritisch kommentierten Edition vor. Folgt man den Herausgeberinnen, so ist es diese neue Perspektive, die "Einblick in ein bisher gänzlich unbekanntes Einsatzgebiet von Frauen an der Kriegsfront" gewährt und auf Forschungsdesiderate verweist (12). In der Tat hebt sich das Buch von der inzwischen schwer überschaubaren Masse an Egodokumenten erfreulich ab. Dies ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass persönliche Quellen aus der Etappe in geringerem Umfang überliefert sind. Eine besondere Dynamik entsteht aus der Fähigkeit der Protagonistin zu offener Selbstreflexion. Diese wird kontrastiert durch die ambivalent, ja angesichts minutiös registrierter Gräueltaten geradezu grotesk anmutenden Herausforderung, das von einem bürgerlich-liberalen und pazifistischen Wertekanon geprägte Weltbild in Einklang mit dem Dienst am Vaterland zu bringen.
Bei der Lektüre wird deutlich, dass es sich bei der einstigen Rot-Kreuz-Helferin und späteren Juristin Schücking um kein unbeschriebenes Blatt als Zeugin der Zeitgeschichte handelt. Bereits im Januar 2010 nahm sie in einem Spiegel-Interview Stellung zum Wissen der deutschen Soldaten um den Holocaust. [1] Die amerikanische Historikerin Wendy Lower beschäftigt sich in ihrer Studie "Hitlers Helferinnen" ebenfalls mit der Zeitzeugin Schücking. Dort wird sie als "Vertreterin eines verbrecherischen Regimes" charakterisiert, die zwar "schuldig durch Zugehörigkeit und Mitmachen, nicht aber aufgrund ihrer individuellen Taten" sei. [2] Auch die Herausgeberinnen des vorliegenden Bandes arbeiteten im Rahmen juristischer bzw. regionalgeschichtlicher Publikationen bereits mit Anette Schücking zusammen (9).
Diese Präsenz als Zeitzeugin, die bei der Annäherung an die Briefe und Tagebücher in Rechnung zu stellen ist, wird dem Leser in einem dreigliedrigen, knapp 70 Seiten umfassenden und insgesamt erhellenden Einführungskapitel näher gebracht. Zunächst zeichnet der Historiker Ulf Morgenstern ein Bild von den Kommunikationsstrategien innerhalb der Familie Schücking. Schücking verfasste ihre Briefe mit Blick auf spätere Archivierung, sie lassen sich also "nicht als rein zufällig auf die Nachwelt gekommene Überrestquellen erklären" (29). Ebenso relevant ist die Tatsache, dass Schückings Vater wegen "staatsgefährdender Zusammenarbeit mit Kommunisten" seit 1933 mit Berufsverbot belegt war (17). Anknüpfend daran werden rahmengebende historische Zusammenhänge erläutert, Personen, Gegenstände, Ereignisse und Orte sowie Anette Schücking als Chronistin und Akteurin vorgestellt. Gewinnbringend ist die auf fundierten Recherchen basierende Veranschaulichung politischer, militärischer und verwaltungstechnischer Spezifika der Besatzungsherrschaft im Osten. Ferner wird auf die betreuende Tätigkeit des Roten Kreuzes innerhalb des Transportsystems der Wehrmacht ebenso eingegangen wie auf die alltäglichen Aufgaben in einem Soldatenheim.
Gewisse Einschränkungen sind bei der Präsentation des Quellenmaterials hinzunehmen. Dass in einigen Fällen persönliche Äußerungen zur Privatsphäre der Familie ausgelassen wurden, ist bedauerlich, aber verständlich (77). Problematischer ist die Aufteilung der Konvolute, wodurch die Dokumente von Anette Schücking sowie die ihrer Familie jeweils für sich allein stehen. Dadurch drohen wesentliche hermeneutische Vorzüge, die insbesondere wechselseitige Feldpostserien bieten, in weiten Teilen verloren zu gehen. Schließlich liegt die Fähigkeit, exakte und umfassende Aussagen darüber zu treffen, inwieweit die damaligen Protagonisten anhand ihres "sozialen Wissensvorrats" in der Lage waren, sich ihre Identität im Krieg zu bewahren und inwiefern Transformationsprozesse von objektiven zu subjektiven Wirklichkeiten stattfanden, nicht zuletzt in der kontinuierlichen Betrachtung des kommunikativen Aufeinandertreffens zunehmend divergierender Wahrnehmungswelten begründet. [3] Gerade wegen des unter Umständen fortschreitenden Auseinanderdriftens der zivilen und militärischen Referenzrahmen der Schreiber kommt der steten gegenseitigen Bezugnahme als Akt der Selbstvergewisserung eine enorme Bedeutung zu. [4] Eine zumindest annähernd abwechselnde Anordnung, analog einem unmittelbaren Briefwechsel, wäre ebenso wünschenswert wie möglich gewesen, zumal die Briefe nicht nur datiert, sondern meist nummeriert sind und thematisch Bezug aufeinander nehmen. Die Rechtfertigung der Vorgehensweise durch die Autorinnen mit dem Verweis auf lange Postwege und unregelmäßige Zustellung überzeugt kaum (78). Der Versuch, inhaltliche Verknüpfungen über den Anmerkungsapparat herzustellen, bleibt Makulatur.
Bei der Durchsicht der Briefe und Tagebucheinträge ist es ratsam sich zu vergegenwärtigen, dass sich die klare Sicht auf eine Akteurin, die den Verbrechen des NS-Regimes zwar mit Verachtung begegnet, aufgrund der ihr gebotenen Handlungsspielräume jedoch den Versuch unternimmt, sie in ihr Weltbild zu integrieren, aus der Retrospektive allzu leicht verzerrt. Seinen Niederschlag findet dies in höchst ambivalenten Äußerungen, wobei Schücking den Krieg vor ihrem Einsatz als "Unglück" (99) und jedes Sterben darin als "sinnlose Opfer" bezeichnet, um wenig später zu konstatieren, dass sie durch die Überwindung jeglicher "rechtlicher Empörung" nun alles besser in sich aufnehmen könne (157). Dies führt über die Absage an jegliches Mitleid gegenüber der Bevölkerung (193) zu der Aussage, dass der Krieg wohl noch länger dauern würde, "wenn wir nicht die Juden alle erschossen hätten, oder nicht noch erschießen" (201). Dem gegenüber wiederum steht eine tiefe Bewunderung für die russische Seele, wie sie sich in den Werken Tolstois und Gogols verkörpert, sowie der Wunsch, Sprache und Volk besser kennenzulernen (189).
Somit erscheint der Briefwechsel Schücking nicht nur als Zeugnis über die deutschen Gräueltaten im Osten. Vielmehr offenbart er Handlungsstrategien und Reflexionen einer Zeugin, die sich gezwungen sieht, einem Regime, das sie zumindest in Teilen zutiefst ablehnt, sinnstiftende Momente zuzuschreiben, um sich in dessen Rahmen zu entfalten (103, 156, 209, 389f.). Damit einhergehende Widersprüchlichkeiten, die sich wie ein roter Faden durch den gesamten Briefwechsel ziehen, erhöhen den Quellenwert, da die Aussagen an Glaubwürdigkeit gewinnen. Zahlreiche thematische Herangehensweisen und Fragestellungen an den Bestand sind denkbar. So sei der interessante Blickwinkel eines "objektiven" Dritten auf die deutschen Soldaten erwähnt: Brutalisierung und Verrohung (274), Intimitäten mit einheimischen Frauen (288), die Belastung der Beziehung zu den eigenen Familien aufgrund der Trennungszeiten (273) werden offen thematisiert. Dies findet sich in dieser Form kaum im direkten Briefverkehr der Landser mit ihren Angehörigen. Ähnliches gilt für die Thematisierung von Kameradschaft aus Sicht einer Frau (361) oder für die Situation der Kriegsgefangenen (122, 589). Sowohl die Vielfalt der Analysemöglichkeiten als auch der Blick hinter die Kulissen einer bislang kaum beachteten Helferinnengruppe machen die Publikation zu einer wertvollen historischen Quelle.
Anmerkungen:
[1] Man riecht bei vielen Blut. Die Juristin und frühere Rot-Kreuz-Helferin Anette Schücking-Homeyer, 89, über den Russlandfeldzug und das Wissen der deutschen Soldaten um den Holocaust, Interview: Martin Doerry und Klaus Wiegrefe, in: Der Spiegel, Nr. 4, 25.1.2010, 42-44.
[2] Wendy Lower: Hitlers Helferinnen. Deutsche Frauen im Holocaust, München 2014, 71f.
[3] Vgl. Klaus Latzel: Deutsche Soldaten - nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis - Kriegserfahrung 1939-1945, Paderborn 1998, 91-99.
[4] Sönke Neitzel / Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Bonn 2011, 16-82.
Christian Packheiser