Florian Huber: Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945, 4. Auflage, Berlin: Berlin Verlag 2015, 303 S., 20 s/w-Abb., ISBN 978-3-8270-1247-0, EUR 22,99
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Florian Hubers Buch mit dem erschreckenden Titel will, so die Eigenwerbung, einem "verdrängten Kapitel der Zeitgeschichte" zu größerer Wahrnehmung verhelfen: Den Massensuiziden "der kleinen Leute" bei Kriegsende. Zumindest in der Fachwissenschaft war das Thema ganz so "verdrängt" freilich nicht in den letzten Jahren; zumindest einige einschlägige Titel finden sich in der mit knapp zwanzig Titeln bedauernswert kurzen Literaturauswahl. [1] Und auch in diesen Arbeiten ging es keineswegs nur um die Größen des NS-Staates, angefangen bei Hitler, Goebbels oder Bormann, die in Berlin in den Tod flüchteten, oder die Gauleiter und Generäle, die überall im Reich auf Giftampullen bissen oder sich erschossen.
Nun ist bekannt, dass die Erkenntnisse der Zeitgeschichtsforschung nicht immer den direkten Weg ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit finden, und so ist es prinzipiell zu begrüßen, wenn ein Journalist, studierter Historiker zumal, sich in einem gut lesbaren, gerne auch eingängig aufbereiteten Buch eines Themas annimmt.
Im ersten Teil des Bandes ist das auch bestens geglückt: Hier bietet Huber eine dichte Beschreibung der Ereignisse im mecklenburg-vorpommerschen Demmin, wo sich zwischen dem 30. April und 4. Mai 1945 unmittelbar vor und nach dem Einmarsch der Roten Armee Hunderte, vielleicht bis zu Tausend Menschen das Leben nahmen. Demmin ist zweifelsohne der bekannteste Fall jenes erstaunlichen Phänomens des kollektiven Suizids bei Kriegsende, der bereits mehrfach von der Forschung aufgegriffen wurde und regional gut dokumentiert ist. [2] Aus zahlreichen Augenzeugenberichten webt Huber im Stil der historischen Reportage eine fesselnde Darstellung der "Selbstmord-Epidemie" (passim) in dem Hansestädtchen. Sensibel schildert er die Tragödien, die sich an diesem Tag ereigneten. Dabei ist es Huber gelungen, das bereits bekannte Material durch eigene Funde im Tagebucharchiv Emmendingen zu ergänzen. Die Überschrift des zweiten Teils lautet "Demmin ist überall", und tatsächlich blieb das Phänomen der massenhaften Selbsttötungen nicht nur auf diese Stadt beschränkt, sondern griff im Osten auch andernorts um sich. Im Westen freilich war die Dimension eine gänzlich andere.
Ehe Huber mit einem kurzen Kapitel über die Erinnerungsgeschichte schließt, sieht er "Im Taumel der Gefühle" (Teil 3) den Grund für die "Selbstmordwelle" (passim) im Frühjahr 1945. Dabei greift er weit aus: Das Leiden der verwundeten Nation, die Erniedrigung in der Weltwirtschaftskrise, der Freudentaumel der Machtergreifung, Teilhabeeuphorie, Siegestrunkenheit und Führerliebe, schließlich Angst und Schrecken der drohenden Niederlage. Emotionen hat die Geschichtswissenschaft seit geraumer Zeit als historisch wirkmächtige Faktoren erkannt, und ohne jeden Zweifel spielten sie eine eminent wichtige Rolle für die autodestruktiven Reaktionen bei Kriegsende. Jedoch: Huber reduziert seine Protagonisten auf diese Emotionalität. Fast wirken die "kleinen Leute" wie ein Volk auf Speed, das sich an sich selbst, an seinen Siegen und an Hitler berauscht hat, und das am Ende den gewaltsamen Entzug nicht ertragen kann. Das ist nicht falsch, aber es ist eindimensional und verkürzend. Es transportiert tendenziell ein Bild der "kleinen" Deutschen als Opfer des großen Verführers Hitler. Das ist vielleicht nicht Hubers Intention; es ergibt sich aber aus einer eingeschränkten Rezeption neuerer Forschungen zur NS-Gesellschaft in Verbindung mit seiner nicht kritisch reflektierten Quellenauswahl: viele seiner Gewährsleute sind zum Zeitpunkt des Erlebens jugendlichen Alters (die üblichen Verdächtigen: Melitta Maschmann, Lore Walb), und nationalsozialistische "Erweckungserlebnisse" lassen sich in der historischen Reportage natürlich gut verwerten. "Kleine Nazis" jenseits der verführten Jugend scheinen jedenfalls kaum Teil der "kleinen Leute" gewesen zu sein. Verstärkt wird das Problem durch eine mangelnde Differenzierung zwischen zeitnahen Tagebüchern und nachgelagerten Erinnerungen.
Es besteht kein Zweifel, dass viele derjenigen, die in den Freitod gingen, Opfer waren; auch ist es selbstverständlich möglich, gleichzeitig Opfer und Täter zu sein. Die Vielschichtigkeit des Phänomens Selbsttötung bei Kriegsende bleibt bei Huber aber unterbelichtet. Warum der kollektive Massenrausch nur im Osten zu Massensuiziden führte, wird kaum erklärt, und warum und unter welchen Umständen sich die vergleichsweise wenigen Selbstmörder im Westen umbrachten, ebenso wenig: Dass der Suizid häufig einen kommunikativen Aspekt hatte, der auf die Nachwelt zielte, wird nur gestreift; vom Trotz, mit dem so manche den eigenen Tod inszenierten, erfährt man kaum. Die Darstellung der Angst, zweifelsohne eine zentrale Emotion an der Ostfront, bleibt unterkomplex: Abgesehen von der "Russenangst" schildert Huber sie als Angst vor dem Krieg und dessen Ausweitung. Die Angst, die sich aus der Kenntnis, mindestens der Ahnung der deutschen Verbrechen speiste, verschwindet dagegen fast. Das knappe Kapitel trägt noch dazu die unpassende Überschrift "Der Schatten der anderen". Der Leser kann sich jetzt aussuchen, ob "die anderen" die kleinen Deutschen exkulpiert ("andere" übten Gewalt) oder die Taten geradezu auf den Kopf stellt (die Opfer, nicht etwa die Täter belasten mit ihren Schatten die Deutschen).
Überhaupt spielt die von Deutschen ausgeübte Gewalt im Buch praktisch keine Rolle - selbst da, wo sie für das Thema höchst relevant wäre. Das Erleben oder gar Ausüben dieser Gewalt wird vor allem als traumatisches Ereignis für die Täter oder Zeugen abgehandelt (235). Gleich unter der Überschrift "Gefrorene Seele" liest man in den Worten des Schweizers René Juvet von einem SS-Wachmann im Konzentrationslager Mauthausen, der sich als "Opfer des Führers" in den Suff rettet und an Selbstmord denkt. Die Kommentierung dieser Episode überlässt Huber weitgehend Juvet. Während dem SS-Mann und seinem Selbstmitleid viel Raum gegeben wird, erfahren wir quasi en passant über die Häftlinge: "Wer erledigt werden sollte, den jagten sie in die Hochspannungsdrähte. Einige gingen freiwillig" (238). Vermutlich nahm sich Hubers seelisch schockgefrosteter SS-Mann tatsächlich nicht das Leben - das bleibt aber offen. Realität aber war: Während sich Deutsche ihr emotionales Gepäck aufluden (oder, so scheint es, aufgeladen bekamen), das sie 1945 für den massenhaften Freitod disponierte, trieben - nicht selten die gleichen! - Deutschen Hunderte und Tausende Juden und andere Verfolgte in den Suizid: durch Marginalisierung und Entrechtung seit 1933, nach der "Reichskristallnacht", in den Gettos und, von Anfang an, in den Konzentrationslagern. Dieser "Selbstmord der anderen" ist nicht Thema des Buches. Trotzdem hätte der Rezensent gelegentliche Verweise unbedingt erwartet - der "größte Massenselbstmord auf deutschem Boden" (136) war eben auch in dieser Hinsicht nicht voraussetzungslos.
Huber glänzt mit seiner Technik der historischen Reportage in der Schilderung der Tragödie von Demmin, und die zusätzlichen Quellen, die er dazu aufgetan hat, sorgen für eine Erweiterung der Perspektive. Seine Analyse des Phänomens der Massensuizide ist von vergleichbarer sprachlicher Brillanz. Inhaltlich zu überzeugen vermag sie vom historischen Standpunkt aus nur begrenzt. Hier zeigen sich die Grenzen von Hubers "historischer Reportage": Zu selten löst er sich von der Überlieferung seiner Zeugen, zu selten weitet er den Blick auf Ereignisse und den Kontext, den sie nicht im Blick haben. Was seine Zeitzeugen nicht sehen (oder sagen), nimmt auch Huber zu wenig wahr.
Anmerkungen:
[1] Wie etwa Christian Goeschel: Selbstmord im Dritten Reich, Berlin 2011, 230-255.
[2] Norbert Buske: Das Kriegsende in Demmin 1945. Berichte, Erinnerungen, Dokumente, Schwerin 1994; Petra Clemens / Elke Scherstjanoi: Das Kriegsende in Demmin 1945. Umgang mit einem schwierigen Thema, Demmin 2013.
Sven Keller