Alexander W. Hoerkens: Unter Nazis? Die NS-Ideologie in den abgehörten Gesprächen deutscher Kriegsgefangener von 1939 bis 1945, Berlin: BeBra Verlag 2014, 371 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-95410-040-8, EUR 38,00
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Simon Gogl: Laying the Foundations of Occupation. Organisation Todt and the German Construction Industry in Occupied Norway , Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020
In seiner Dissertation geht Alexander W. Hoerkens auf der Grundlage britischer Abhörprotokolle der Frage nach, welche Bedeutung der NS-Weltanschauung im Denken deutscher Wehrmachtsoldaten während des Zweiten Weltkrieges zukam. Dass er damit kein wissenschaftliches Neuland, sondern ein intensiv erforschtes Themenfeld betritt, ist dem Autor bewusst. Entsprechend präsentiert sich die Arbeit als Synthese bekannter Forschungsergebnisse mit "Quellen bislang unbekannter Qualität" (8f.). Die Abhörprotokolle werden mittels empirischer Datenaufbereitung ausgewertet und mit Methoden der Sozialpsychologie analysiert. Dadurch sollen Erkenntnisse zur Dynamik und den Mechanismen ideologischer Durchdringung in der NS-Diktatur gewonnen werden. Unverkennbar ist das Bestreben, ausgehend von der Referenzrahmenanalyse [1], ebenso die maßgebliche Bedeutung situativer Einflüsse für das Agieren von Soldaten im Krieg zu unterstreichen (9f., 22f.). Zugleich soll, durch die Ermittlung von Gesetzmäßigkeiten des Transports von Denk- und Erfahrungsmustern, die tendenzielle Übertragbarkeit der Resultate auf größere Gruppen der Wehrmacht erreicht werden (16, 307).
In einem dreigliedrigen Einleitungsteil legt Hoerkens seine Vorgehensweise dar: Er erläutert die Methodik und entwirft eine Skizze über den Forschungsstand zum Themenkomplex "Wehrmacht und NS-Regime". Er spannt den Bogen von den mentalen Wurzeln der Reichswehr im Kaiserreich bis zum militärischen Widerstand in der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges. Darüber hinaus bezieht er Position zur Feldpostforschung, zu generationell argumentierenden Theorien und grenzt sich von Publikationen, die mit gleichartigen Quellen arbeiten, ab. [2] Schließlich wird das Instrumentarium der Analyse ausgebreitet. Dazu erarbeitet Hoerkens ein Modell aus fünf Untersuchungsfeldern, mit der "die nur schwer greifbare Einstellung der Soldaten zum Globalkomplex Nationalsozialismus aufgeschlüsselt" (17) und seine Methode zu einem "trennscharfen Instrument zur Analyse der NS-Ideologie" (12) gemacht werden soll. Es beinhaltet die Aspekte "NS-Herrschaftssystem", "NS-Führer Adolf Hitler", "NS-Rassismus", "NS-Anti-Kommunismus" und "Krieg". Aussagen, die zu diesen Gesichtspunkten in den Protokollen vorkommen, werden mit Hilfe des Programms MAXQDA in einem Codierungsverfahren erfasst (24), manuell zugeordnet und in die Kategorien "zustimmend", "ablehnend" und "unbestimmt" eingeteilt und gezählt (20).
Im Hauptteil der Arbeit werden die errechneten Ergebnisse präsentiert, indem die fünf Analysekategorien anhand der Bestände "Heer", "Luftwaffe" und "Marine" separat abgearbeitet werden. Darüber hinaus gibt es den Bestand "Gemischt". Aufgrund starren Durchdeklinierens entstehen vier Blöcke zu je fünf Kapiteln mit sich stets wiederholenden Überschriften, wobei sich jeweils eine zusammenfassende Betrachtung anschließt. Insgesamt wirkt die Studie durch dieses Vorgehen stark schablonenhaft. Die Erklärung Hoerkens, dass sich signifikante Eigenheiten der Waffengattungen nur auf diese Weise erschließen (20), überzeugt nicht - zumal eine themenzentrierte Untersuchung die Vergleichbarkeit zwischen den Teilstreitkräften erhöht hätte. Seiner Linie treu bleibend, drittelt der Autor die Kapitel weiter und lässt stets nach dem mathematischen Blick auf die Aussagenstatistik die Sprecher selbst zu Wort kommen, um wiederum mit einem Zwischenergebnis zu schließen.
Nun ist der Versuch, den Ideologisierungsgrad der Wehrmacht anhand von Aussagestatistiken auf der Grundlage einer relativ authentischen Quelle wie derjenigen der Abhörprotokolle zu berechnen, gewiss ein ambitioniertes Unterfangen. Jedoch tauchen in Bezug auf die quantitative Herangehensweise - Hoerkens errechnet einen Wert von 5-20% NS-Überzeugten (315) - Fragen hinsichtlich des Vorgehens und der Belastbarkeit auf. Zunächst frappiert, dass von den knapp 14.000 Protokollen und 3.300 Soldaten, die, wie auf dem Buchrücken angekündigt, untersucht werden sollen, nach einem Aussiebverfahren nur 2067 Gesprächsmitschnitte und 1428 Sprecher als relevant eingestuft werden. Der Rest wird aufgrund fehlender Aussagen zu den gewünschten Kategorien für nicht ideologisiert befunden (12f., 308). Wird berücksichtigt, dass sich die verbliebenen Protokolle aus vier Samples speisen und sich die darin enthaltenen Sprecher nur zu einem Teil der Themen äußern, bleiben für die Untersuchungsfelder denkbar geringe Fallzahlen. Schließlich differenziert der Autor zwischen Werten, die ausschließlich aus der verkleinerten Stichprobe resultieren (15-20%), und jenen, die in einem zumindest strittigen Verfahren mit Rekurs auf die Diskursanalyse, abermals unter Einbeziehung der "schweigenden Mehrheit" in die Gesamtstatistik (5-8%), errechnet werden (68, 111, 307ff.).
Im Zusammenhang damit stehen weitere Unsicherheits- bzw. Verzerrungsfaktoren. Um nur einige zu nennen: die britischen Abhörinteressen, fehlende Angaben zur Verweildauer und eine zu pauschale Präsentation des Datenmaterials. So ist denkbar, dass einige Sprecher aufgrund verwertbarer technischer oder strategischer Informationen länger als andere in den Abhörlagern waren, in denen rege Fluktuation herrschte. [3] Dadurch konnten sie theoretisch zu bestimmten politischen Aspekten überproportional Stellung nehmen. Ebenso ist der umgekehrte Fall möglich. Darüber hinaus versäumt es die Studie, durchgängig und umfassend zu quantifizieren, inwiefern sich Sprecher ambivalent innerhalb einer als auch zwischen den Analysekategorien äußerten. Das allerdings kaum überraschende Fazit, dass die als Nationalsozialisten identifizierten Personen "nicht widerspruchsfrei" waren (313f.), wäre als These und Ausgangspunkt einer tiefergehenden und facettenreicheren Binnenanalyse am Anfang der Arbeit besser platziert. Weiterhin beweist der Autor analytische Ungenauigkeit, wenn er suggeriert, die "einfachen Soldaten" stünden im Mittelpunkt der Arbeit (42ff., 328). Tatsächlich lässt sich bei den relevanten Aussagen von Sprechern unterhalb des Unteroffiziersdienstgrades für die Gesamtstudie lediglich ein Durchschnittswert von weniger als 25 Prozent ermitteln. Andererseits dominiert, beispielsweise im Sample "Gemischt", der Gesprächsanteil der beiden Generäle Thoma und Crüwell, je nach Kategorie, mit 35 bis 46 Prozent (61-94).
Insgesamt überstrapaziert die Studie - trotz erkannter mangelnder Repräsentativität (307) - die Validität des ihr zugrunde liegenden Materials und stößt wiederholt an die Grenzen quantitativer historischer Forschung. Dem ist die ergänzende qualitative Herangehensweise aufgrund der illustrativen Aussagekraft der Abhörprotokolle zugute zu halten. Interessant ist der Vergleich von Grunddispositionen zur Ideologisierungsbereitschaft zwischen den Wehrmachtteilen unter Berücksichtigung des Kriegsverlaufs und der Qualität der Aussagen. Somit macht Hoerkens eine höhere Reflexionsbereitschaft im Heer aufgrund direkteren Erlebens des "schmutzigen Krieges", etwa an der Ostfront, im Gegensatz zu U-Bootbesatzungen aus, die "ohne Anbindung an die Außenwelt blind ihren Dienst leisten" und sich als "Gejagte des Seekrieges" in stereotype rassistische Deutungsmuster flüchten. Bei Luftwaffenpiloten führte das elitäre Selbstbild des aktiven Angreifers dagegen zu einer höheren Systemaffinität (311ff.). Die Erkenntnis, dass der nationalsozialistische Weltanschauungskämpfer nur als Minderheit auftaucht, überrascht wiederum weniger (314). Trotz aller Einschränkungen bietet das Buch eine Möglichkeit zur Annäherung an die vielversprechende Quellengattung Abhörprotokolle.
Anmerkungen:
[1] Sönke Neitzel / Harald Welzer (Hgg.): Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Bonn 2011, 16-82.
[2] Raphael A. Zagovec: Gespräche mit der "Volksgemeinschaft". Die deutsche Kriegsgesellschaft im Spiegel westalliierter Frontverhöre, in: Die Deutsche Kriegsgesellschaft 1939-1945 (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9,2), hg. von Jörg Echternkamp, München 2005, 289-381; Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2008.
[3] Vgl. Felix Römer: Kameraden. Die Wehrmacht von innen, München 2012, 27-59; Sönke Neitzel: Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Gefangenschaft 1942-1945, Berlin 2007.
Christian Packheiser