Susanne Raillard: Die See- und Küstenfischerei Mecklenburgs und Vorpommerns 1918 bis 1960. Traditionelles Gewerbe unter ökonomischem und politischem Wandlungsdruck (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 87), München: Oldenbourg 2012, XI + 453 S., ISBN 978-3-486-70315-3, EUR 44,80
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Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat zwischen 2004 und 2009 das Projekt "Mecklenburg und Vorpommern im 20. Jahrhundert - Lebenswelten im Systemwandel von der Zwischenkriegszeit bis zur Nachkriegszeit" gefördert. In diesem Rahmen entstand die Studie/Dissertation von Susanne Raillard über die See- und Küstenfischerei an der Ostseeküste des heutigen Mecklenburg-Vorpommerns.
Die solide erarbeitete historische Längsschnittstudie erzählt über vier Jahrzehnte hinweg und durch drei politische Systeme hindurch die Geschichte eines traditionellen Gewerbes. Die akribische Untersuchung fokussiert die Handlungs- und Konfliktfelder der jeweiligen staatlichen Fischereiverwaltungen, das Organisationswesen der See- und Küstenfischer sowie das Interagieren der Akteure zwischen 1918 und 1960. Dabei behält sie die politischen, ideologischen, sozialen und wirtschaftlichen Konfliktfelder im Blick und fragt nach deren Verschränkungen in der Weimarer Republik, der NS-Zeit und der SBZ/DDR. Sie zeigt anschaulich, wie es dem traditionellen Fischereigewerbe immer wieder gelang, den politischen und ökonomischen Vereinnahmungen auszuweichen oder diese sogar für sich zu nutzen.
Die See- und Küstenfischerei geriet in der Regel nur in Phasen angespannter Versorgungslagen in den Fokus staatlicher Stellen, d. h. in den Kriegs- und Nachkriegszeiten und zuletzt natürlich durch die Kollektivierung in der DDR. (422) Doch ob nun unter den Marktgesetzen der Weimarer Republik, der Lenkungswirtschaft der Nationalsozialisten oder der Planwirtschaft und Kollektivierung in der DDR - bei den Fischern galt durchgängig das Credo: Der Fischer muss auf dem Wasser selbständig bleiben. (1) Jeder hat "für sich und seine Interessen die volle Verantwortung zu übernehmen, zum Nutzen der Allgemeinheit und der persönlichen Selbsterhaltung." (58) Mit anderen Worten, die Politik blieb im Hafen und auf dem Wasser galten ganz andere Gesetze - die des Meeres. Das spezifische Arbeitsfeld der Fischer, die Besonderheiten und Schattenseiten ihres Berufslebens führten dazu, dass sie im 20. Jahrhundert beachtliche Beharrungskräfte entwickeln konnten und damit blieb das Politische vielfach "buchstäblich im Ostseesand stecken." [Klappentext] In ihren Schlussbetrachtungen nimmt Susanne Raillard den Gedanken der Selbständigkeit auf dem Wasser wieder auf und resümiert hinsichtlich des Abschlusses der Kollektivierung, dass die Fischer auf dem Wasser zwischen 1918 und 1960 tatsächlich selbstständig blieben und das "in vielen Fällen auch über 1960 hinaus." (426)
Die von Susanne Raillard untersuchte Berufsgruppe ist vergleichsweise klein, aber ihr Agieren im "toten Winkel" der Herrschenden bot vielfach auch Vorteile. (4) Wenn es Forderungen wie etwa Ablieferungspflichten oder planwirtschaftliche Sollauflagen gab, dann konnten die Fischer aufgrund ihrer traditionellen Arbeitsformen der Obrigkeit mit einem gewissen "Eigensinn" begegnen. Etwa so wie im Juli 1953 im Rahmen des "Neuen Kurses" im Umfeld des 17. Juni: "Über das Wort 'Soll' ist schon sehr viel gesprochen worden; uns hängt das schon zum Hals raus. Es ist doch so: Der Fischer hat von jeher das Bestreben gehabt, so viel zu fangen, wie irgend möglich. Warum werden immer Soll-Zahlen aufgestellt, die gar nicht realisierbar sind?" (341/42) Der Saisoncharakter der Fischerei bot zu allen Zeiten genügend Spielräume für eine ganz eigene Auslegung der Lebens- und Arbeitsbedingungen.
Die zwischen 1918 und 1960 erfolgten Disziplinierungsversuche über die Ablieferungspflicht, Preisfestlegungen oder ideologische Überzeugung blieben in der Weimar Republik, in der NS-Zeit und auch in der SBZ/DDR weitgehend erfolglos. Die Geschichte der See- und Küstenfischerei Mecklenburg-Vorpommerns ist zudem auch eine Geschichte des Schwarzhandels und mitunter handfester Auseinandersetzungen der Fischer mit der Obrigkeit. Eine wirksame Kontrolle war nicht möglich. In der NS-Zeit gab es beispielsweise keine klaren zentralen Anweisungen. Vieles wurde den örtlichen Gegebenheiten und Bedürfnissen überlassen. Immer wieder konnten die Fischer ihre Interessen lokal weitgehend ungehindert durchsetzen. (214-225)
Die Studie gliedert sich in sechs Kapitel. In der Einleitung (1-39) wird neben der Methodik, Vorgehensweise und dem Forschungsstand/der Quellenlage der nicht gerade einfach zu fassende Untersuchungsgegenstand erfreulicherweise ausführlich vorgestellt. Susanne Raillard befasst sich mit Themen wie Fanggebiete, Fangmethoden, Fischereirecht, Arbeitsformen oder Organisationsgeschichte sowie betrieblichen und sozialen Strukturen. Alles in allem werden dadurch fachkundige Einblicke in die Spezifik der See- und Küstenfischerei geboten. Diese ausführliche Einführung ist eine notwendige Voraussetzung für das Verständnis der dann folgenden Kapitel.
Die Hauptkapitel über die Weimarer Republik (41-121), die NS-Zeit (123-225) und die SBZ/frühe DDR (227-326) sind dreiteilig aufgebaut. Zuerst werden die staatliche Fischereiverwaltung bzw. Institutionen auf der Herrschaftsebene behandelt; der zweite Teil nimmt das Organisationswesen der See- und Küstenfischerei in den Blick; der dritte Teil ist ereignisgeschichtlich angelegt und widmet sich dem Interagieren der Akteure. Hierzu bemerkt sie: "Diese klare theoretisch-systematische Aufteilung mag bisweilen etwas künstlich wirken und wird auch in der Praxis nicht immer allen Besonderheiten gerecht. Angesichts der Tatsache, dass eine Strukturanalyse der See- und Küstenfischerei der Ostsee bisher nicht vorlag, erwies sie sich jedoch als am besten geeigneter Weg zur Strukturierung und Erschließung eines weitgehend unbearbeiteten Forschungsgegenstandes." (7/8) Lediglich im Kapitel zur Kollektivierung der See- und Küstenfischerei (327-415) wird diese Dreiteilung nicht mehr weitergeführt und die Kollektivierungsgeschichte zwischen 1953 und 1960 durchgängig erzählt. Jedes der Hauptkapitel verfügt zudem über inhaltliche Zusammenfassungen. Die Schlussbetrachtungen (417-426) folgen der Dreigliederung der Hauptkapitel. Ein statistischer Anhang, ein für weitere Studien gut geeignetes weiterführendes Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Personenregister runden die Studie ab.
Gleichwohl hat die Ausrichtung der Studie auf eine politische "Institutionengeschichte" im Längsschnitt aber auch eine gewisse thematische und inhaltliche Schieflage erzeugt. Die systematische bzw. stärkere Einbeziehung der wirtschafts-, technik-, sozial- und umwelthistorischen sowie berufsspezifischen Aspekte wäre wünschenswert gewesen. Doch in der Gesamtsicht hat Susanne Raillard eine eindrucksvolle Organisations- und Strukturgeschichte der See- und Küstenfischerei Mecklenburg-Vorpommerns vorgelegt. Ihre Arbeit schließt verdienstvoll eine Forschungslücke, bewegt sich durchgängig auf wissenschaftlich hohem Niveau und bietet eine hervorragende Grundlage für weitere Forschungen zu dieser Thematik.
Burghard Ciesla