Christine Eckett: Kurt Schwitters. Zwischen Geist und Materie, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2012, 304 S., 28 Farb-, 53 s/w-Abb., ISBN 978-3-496-01452-2, EUR 49,00
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Neben Marcel Duchamp hat sich in den letzten Jahren Kurt Schwitters als überragende Hauptfigur der dadaistischen Bewegung etabliert. Zahlreiche Ausstellungen und Publikationen haben sein Werk und dessen Entwicklung sowie Schwitters' Einfluss auf andere Künstler des 20. Jahrhunderts bis heute vorgestellt und vertieft. Mit Werner Schmalenbachs und John Elderfields umfangreichen Darstellungen liegen zwei große Monografien vor, die immer noch Maßstäbe setzen. [1] Ergänzt wurden sie durch Spezialstudien, etwa zu den Collagen oder zum Exil-Aufenthalt in England. [2] Christine Ecketts 2008 in Berlin angenommene Dissertation könnte mit Recht als weitere Spezialstudie rubriziert werden und somit der relativen Vergessenheit anheimfallen. Doch das jetzt vorliegende Buch trifft ins Herz von Schwitters' Kunstvorstellungen und ihrer konstitutiven Phase. Es fokussiert mit dem Untersuchungszeitraum 1917-1921 genau jenen Zeitabschnitt, der die Ausformulierung und Etablierung der Schwitterschen Merz-Kunst umreißt. Überdies lässt die methodisch vorbildliche Herangehensweise die Autorin so weit ausgreifen und so tiefgehend analysieren, dass die Studie mit umfassendem Anspruch versehen ist, der sie über die bloße Qualifikationsarbeit erhebt.
Eingelöst wird dieser unausgesprochene Anspruch durch detailliert ausgeführte Kapitel, die sich zum Beispiel mit der Krise des Subjekts um 1900 als geistesgeschichtlicher Voraussetzung der expressionistischen wie modernen Kunst und damit auch Schwitters' überhaupt beschäftigen. Dies geschieht aber nicht in der sonst oft üblichen Allgemeinheit, sondern wird anhand konkreter Rezeptionswege nachgezeichnet. Es gehört neben den Einzelwerkanalysen zu den Stärken des Buches, dass Eckett der Doppelbegabung Schwitters' Rechnung trägt und zum Beispiel sein Gedicht Weltfrühe von 1917/18 im Kontext des Ersten Weltkriegs hinsichtlich seiner auch an Nietzsche angelehnten apokalyptischen Rede wie organizistischen Metaphorik interpretiert. Merz entsteht denn auch als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg, wie Eckett nochmals klar herausstellt und mit einem Zitat von Schwitters' aus dem Jahr 1930 eindrucksvoll unterstreicht: "Man kann auch mit Müllabfällen schreien, und das tat ich, indem ich sie zusammenleimte und - nagelte. Ich nannte es Merz, es war aber mein Gebet über den siegreichen Ausgang des Krieges, denn noch einmal hatte der Frieden wieder gesiegt. Kaputt war sowieso alles, und es galt aus den Scherben Neues zu bauen." (53)
Ecketts Studie ergänzt bzw. korrigiert eher formal ausgerichtete Studien zu Schwitters und kann immer wieder verdeutlichen, wie sich verborgene Sinnschichten in seinen Werken zeigen, die lesbar sind. Das von Schwitters in den Folgejahren zur Vollendung gebrachte Prinzip der Collage erweist sich zum einen als adäquates Mittel der Veranschaulichung von Sinnverlust und zum anderen als produktives Mittel der Sinnproduktion, die als aktive Leistung vom Betrachter in Zwiesprache mit dem Werk generiert werden muss und kann. Dabei wird zum Beispiel der Traditionsbezug Schwitters' zur Kunst um 1800 - die von Eckett in der Nachfolge ihres akademischen Lehrers Werner Busch parenthetisch und zugleich souverän als Gründungsepoche der Moderne konturiert wird - erhellt. Die Autorin unterstreicht das mit Hinweis auf die Prinzipien von Metamorphose und Transformation und interpretiert Schwitters überzeugend als Erbe einer romantisch fundierten Kunstreflexion. Geist und Materie, Kultur und Natur werden von Schwitters als Pole thematisiert, wenn er sich der Rolle der Kunst als Erkenntnismedium mit Blick auf die Frage der Ursprünglichkeit des Phänomens des Lebens verschreibt. Dass Schwitters als Protagonist der historischen Avantgarde dabei nicht alleine steht, erhellen instruktive Ausführungen etwa zum künstlerischen Austausch zwischen dem Hannoveraner und Paul Klee oder zu Schwitters' Kontakten zum Berliner Sturm-Kreis um Herwarth Walden. Dabei werden die zentrale Rolle des in Deutschland breit rezipierten Lebensphilosophen Henri Bergson oder die Bedeutung des Futurismus unterstrichen und später eine Linie von der Mystik Jakob Böhmes über Philipp Otto Runge zu dem Schwitters der unmittelbaren Nachkriegszeit um 1919 gezogen. Dabei wird vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Krise das Ursprungsdenken verflüssigt und dynamisiert, weicht die Vorstellung einer zeitlosen Schau der dialektischen Konstellation von Wesensvielheiten wie Eckett mit Blick auf Walter Benjamin herausarbeitet - ein Ergebnis, das unter Umständen mit Hinweis auf die zeitgleiche Historismusproblematik im Denken von Ernst Troeltsch und Karl Mannheim weiter verortet hätte werden können, aber nicht müssen. Dies schließt sich wiederum kurz mit Schwitters' prozessual gedachter Produktionsästhetik, in der der Begriff des Formens als ständige Hervorbringung durch Zerstörung und Neu- bzw. Umschaffung einen zentralen Stellenwert besitzt, wie Eckett interpoliert.
Ecketts Vorgehen kann hinsichtlich der breiten, aber punktgenauen geistigen wie künstlerischen Verortung von Schwitters' Kunst sowie der exemplarischen, kontextualisierenden Analyse herausragender Einzelwerke vorbildlich genannt werden. Die überaus gedankenreiche Studie belegt das Leistungsvermögen eines modifizierten geistesgeschichtlichen wie werkanalytischen Ansatzes nachdrücklich und empfiehlt sich, trotz der voraussetzungsreichen und dichten Argumentation, als Standardwerk und neben den Klassikern von Werner Schmalenbach und John Elderfield als erste Wahl zu einem Verständnis von Schwitters' Ansatz, der ihn zu einem der Väter der Avantgarde macht und der das "Sichversenken in die Kunst" mit einem "Gottesdienst" vergleichen konnte. Dies aber relativiert nicht seine Zentralstellung, sondern unterstreicht vielmehr nur die Ernsthaftigkeit des künstlerischen Ansatzes.
Anmerkungen:
[1] Werner Schmalenbach: Kurt Schwitters, Köln 1967 und John Elderfield: Kurt Schwitters, London 1985.
[2] Vgl. z.B. Dorothea Dietrich: The Collages of Kurt Schwitters. Tradition and Innovation, Cambridge 1995 und Kat. Kurt Schwitters in England, ed. by Emma Chambers / Karin Orchard, Tate Britain, London / Sprengel Museum, Hannover, 2012/13.
Olaf Peters