Sabine Herrmann: Giacomo Casanova und die Medizin des 18. Jahrhunderts (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung; Beiheft 44), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, 214 S., ISBN 978-3-515-10175-2, EUR 39,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Joël Chandelier: Avicenne et la médecine en Italie. Le Canon dans les universités (1200-1350), Paris: Editions Honoré Champion 2017
Barbara S. Bowers / Linda Migl Keyser (eds.): The Sacred and the Secular in Medieval Healing. Sites, Objects, and Texts, London / New York: Routledge 2016
Alexander Bailey Gauvin et al. (eds.): Hope and Healing. Painting in Italy in a Time of Plague, 1500-1800, Worcester, MA: Worcester Art Museum 2005
Sabine Herrmann, eine äußerst vielseitige junge Forscherin, hat hier eine brillante Studie zu Casanova verfasst, dessen naturwissenschaftliche und medizinische Interessen bzw. dessen vielseitige Bezüge zur Heilkunde im weitesten Sinn einmal mehr verblüffen. Otto Krätz und Helga Merlin haben in der eher populären Form eines Bildbandes den notorischen Liebhaber des amourösen Abenteuers bereits 1995 als "Liebhaber der Wissenschaften" vorgestellt, doch existierte eine vergleichbare wissenschaftliche Arbeit zu Casanova und der zeitgenössischen Medizin bisher nicht. Auch die jüngste Publikation über die Brüder Casanova (Giacomo, Francesco, Giovanni, Gaetano) von Roland Kanz streift die Naturwissenschaften nur am Rande.
Vor allem zeigt Herrmann, von vielfältigen biographischen Bezügen abgesehen (Casanovas frühes prägendes Erlebnis in Sachen Medizin war offensichtlich die Fehldiagnose eines Arztes, die zum Tode seines erst 36jährigen Vaters führte), ein vielfältiges medizinisch-naturwissenschaftliches Umfeld mit einer charakteristischen Nähe zur Philosophie, welches Casanova in den Bann gezogen hat. Nicht nur die Geschlechtskrankheiten und die Hygiene von Bordellen und deren Besucher stehen im Mittelpunkt, sondern Begegnungen mit genialen Ärzten wie Albrecht von Haller, aber auch dem "Modearzt" und Voltaire-Freund Théodore Tronchin sowie dem Leibarzt Josephs II. Giovanni Alessandro Brambilla, der in Wien 1781 eine militärische Sanitätsschule eröffnet hatte.
Dazu kommen Kontakte bzw. umfassende Briefwechsel mit weiteren Ärzten diverser Fürsten, etwa von Algardi, der am Hof in Schwetzingen wirkte, welcher zeitweise Voltaire in seinen Bann zog, über den sich Casanova wiederum ausführlich mit Morgagni, dem damaligen Star der Paduaner Medizinischen Fakultät, austauschte. Als prominentester Arzt seiner Zeit galt ihm der Schweizer Albrecht von Haller, der auch als Dichter glänzte. Dass Morgagni allerdings Hermann Boerhaave, seinem Schüler, diesen Rang zuteilte, wird ebenfalls vermerkt. Wie Orte und Schauplätze dabei - zumindest für die winzige elitäre Schicht, die im Mittelpunkt der Untersuchung steht - ständig wechselten, ist beeindruckend. Für Ärzte und Heiler, aber auch für Scharlatane und bestimmte Adlige und Offiziere war das Reisen offensichtlich so selbstverständlich wie für Casanova. Vertieftes ärztliches Wissen erwarb man hauptsächlich als "Schüler" einer Koryphäe, bei der man hospitierte. Allerdings waren die ärztlichen Karrierebedingungen - über das Studium hinaus - im 18. Jahrhundert nicht "kanonisiert".
Erstaunlich oft hat sich der Chevalier de Seingalt selbst diagnostisch und therapeutisch betätigt. Ärzte schätzten seinen Rat. Medizinische Themen, etwa aus der Gynäkologie und der "Inneren Medizin" diskutierte er mit den berühmtesten Gelehrten. Er wurde von Vätern gebeten, für ihre an der Medizin interessierten Söhne Assistentenstellen bzw. Ausbildungsplätze bei Koryphäen zu vermitteln, was dem begabten Netzwerker nicht schwer fiel (vor allem wenn es ihm selbst Vorteile brachte). Die Augenheilkunde bzw. -chirurgie interessierte ihn besonders. Staroperationen (welche den Starstich ersetzen sollten) waren ein medizinisches Modethema des 18. Jahrhunderts, und sogar die Implantation künstlicher Linsen wurde, etwa im Umfeld des Okulisten Felice Tardini, leidenschaftlich diskutiert (Casanova war dagegen!). Die Beschreibung einer Staroperation am Auge in seinem Roman Icosameron ist für die Zeit absolut realistisch (121), obgleich der Autor die eigentliche Pathophysiologie der Linsentrübung nicht begriffen hatte. Seine Tipps wurden nicht nur in Sachen "Galanteriekrankheiten" sehr geschätzt. Der "weiblichen Gesundheit" widmet Herrmann, wie man das in einem Casanova-Buch erwartet, viele Seiten. Der schillernde, aber meist doch außerordentlich bewunderte Venezianer scheint für manche Schwangere ein wichtigerer Ratgeber als Ärzte gewesen zu sein, von seinen legendären Fähigkeiten und Tricks einer Empfängnisverhütung ganz zu schweigen.
Medizinische Themen spielten in der Gesellschaft und in den Salons des 18. Jahrhunderts, wie das Buch erneut zeigt, eine wichtige Rolle. Ihr Paradigma ging seit dem Ende des 17. Jahrhunderts einem radikalen Umbruch im Zeichen der Aufklärung entgegen. Entsprechend vielseitig sind die benutzten Quellen, mit denen Sabine Herrmann souverän umgeht. Dabei präsentiert sie eine flüssig geschriebene, durchaus spannende Einführung in einen Lebensbereich des 18. Jahrhunderts, der von den meisten Historikern bisher ausgelassen wurde. Casanova war freilich die ideale historische Figur, um Medizin, Ärzte, Krankheiten, Schwangerschaften, Geburt und Sterben dieser Ära eindrucksvoll zu beschreiben. Keine Frage: Als Arzt hätte er kein schlechtes Bild abgegeben. Auch seine psychologischen und empathischen Fähigkeiten waren beachtlich. Seine starke Persönlichkeit, seine umfassende Bildung, seine Weltläufigkeit und sein diplomatisches Geschick ermöglichten es ihm, Menschen für sich zu gewinnen und mit bedeutenden Gelehrten seiner Zeit in einen geistigen Austausch zu treten. Nicht nur Ärzte, Historiker und Venedig-Liebhaber werden das Buch mit großen Gewinn und Genuss zur Hand nehmen, sondern auch alle, die an fachübergreifenden, allgemeinbildenden Themen der Kulturgeschichte interessiert sind.
Klaus Bergdolt