Rezension über:

Robyn Malo: Relics and Writing in Late Medieval England, Toronto: University of Toronto Press 2013, IX + 298 S., ISBN 978-1-4426-4563-9, USD 70,00
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Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Rezension von: Robyn Malo: Relics and Writing in Late Medieval England, Toronto: University of Toronto Press 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 7/8 [15.07.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/07/24857.html


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Robyn Malo: Relics and Writing in Late Medieval England

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Die als assistant professor für mittelenglische Literatur an der Purdue University (Lafayette, Indiana) lehrende Robyn Malo greift in ihrer Monographie einen geschichtswissenschaftlichen Dauerbrenner auf: den mittelalterlichen Reliquienkult. Wer freilich glaubt, hier eine neue Überblicksdarstellung über die Bedeutung von Heiltümern zur Kenntnis nehmen zu müssen, irrt. Der Blickwinkel, unter dem Malo das Phänomen behandelt, ist - zumindest für das von ihr behandelte englische Gebiet im späten Mittelalter - neu: ihr geht es um die Bedeutung von (zumeist verschriftlichter) Sprache bei der Ausbildung von Reliquienkulten. Untersucht wird die Sprache, mittels derer Reliquien beschrieben, interpretiert und mit Bedeutung versehen werden. Im Zentrum der Untersuchung steht somit ein sich aus Metaphern, Fachtermini und literarischen Gemeinplätzen zusammensetzender Reliquiendiskurs, durch den Reliquien überhaupt erst konstituiert werden. Gefragt wird nach dem "Wie", weniger nach dem "Was" - wie werden Reliquien zu dem, was sie bezeichnen (sollen)?

Die der Monographie zugrunde liegenden Fragen sind einfach: Wenn in England Heilige ab dem 12. Jahrhundert aus ihren Gräbern erhoben und in prächtige Schreine transloziert, verschlossen und somit den Blicken der Gläubigen und Pilger entzogen werden, wie wird dann auf die Bedeutung des in den Schreinen verborgenen Heiltums verwiesen? Welche Funktion übernimmt Sprache in Gestalt eines "Reliquiendiskurses" - eine Frage, die im englischen Kontext von großer Bedeutung ist, sind doch die meisten der hier behandelten Kathedralschreine im Zuge des Ikonoklasmus der 1530er und 1540er Jahre vernichtet worden. Wie führten die veränderten historischen und architektonischen Kontexte von Schreinen in England zu einem Erblühen eines Reliquiendiskurses und welchen Einfluss hatte dieser Diskurs auf die Bedeutung der Reliquien selbst?

Die Arbeit ist in zwei große Teile gegliedert. Widmet sich der erste Teil (Relic Discourse and the Cult of Saints) in zwei Kapiteln übergreifenden Fragen nach der Bedeutung eines spezifischen Reliquiendiskurses, wird der Blick im zweiten Teil (The Trouble with Relic Discourse) in weiteren drei Kapiteln auf die konkrete literarische Umsetzung eines solchen Diskurses gerichtet.

Ausgangspunkt aller Überlegungen sind die beiden einzigen Reliquientraktate, die die Zeitläufte überdauert haben und beide just aus der Zeit stammen, in der in England die Bewegung weg vom Grab hin zum Schrein ihren Anfang nahm. Guibert de Nogent und Thiofrid von Echternach verfassten ihre Traktate beide im 12. Jahrhundert - und das, was in "De pignoribus sanctorum" bzw. in den "Flores epytaphii sanctorum" mit Blick auf diese Entwicklung ausgesagt wird, könnte tatsächlich konträrer nicht sein. Während Thiofrid glaubt, Reliquien erhielten ihre eigentliche Bedeutung erst durch die Einschließung in einen Schrein, plädiert Guibert vehement dafür, Reliquien in sua iuxta naturae debitum loca, id est sepulcra zu überführen. Grab versus Schrein, menschliche Natur versus göttliche Natur des Heiligen - zwei kaum miteinander in Einklang zu bringende Sichtweisen, die beide jedoch eines Mediums bedürfen, um Authentizität zu belegen: der Schrift. Heiligenreliquien werden bei Thiofrid mit der Schatzmetapher verknüpft: er glaubt an die "Macht der göttlichen Majestät", die in den Reliquien wirkt, und sieht eine prächtige Hülle als Widerschein eben dieser in ihr verborgenen Majestät. Die Versuche der Autorin, der Hülle, d.h. dem Schrein, diejenige Macht zuzusprechen, über die doch eigentlich das in ihr liegende Heiltum verfügen sollte, wirken mitunter zwar bemüht, doch wird damit auf ein Problem verwiesen, das insbesondere im späteren Mittelalter immer drängender wurde: die sprachliche (nicht zwangsläufige inhaltliche) Verschmelzung von Zeichen und Bezeichnetem, von Reliquiar und Reliquie. Wie sind Aussagen in den Rechnungsbüchern mittelalterlicher Kathedral- und Kollegiatskirchen wie der (von der Autorin nicht behandelten) St. George's Chapel in Windsor zu verstehen, in denen Zahlungen pro reliquiis lavandis belegt sind? Wer wird da "gewaschen" bzw. gereinigt? Die Reliquien? Wohl kaum. Gedacht wird hier doch wohl eher an das Reliquiar. Tatsächlich sieht nicht nur Guibert de Nogent die theologische Gefahr, die diesem Konzept innewohnt. Dort, wo das sichtbare Reliquiar immer wichtiger wird, muss die Bedeutung des verborgenen Heiltums zwangsläufig zurückgehen. Einer der großen Vorzüge des Bandes besteht darin, unterschiedliche Sicht- und Bewertungsweisen zur Sprache zu bringen: wenn man zum Schrein des Hl. Thomas Becket pilgert, steht dann das Reliquiar oder das Heiltum im Vordergrund? Welche Bedeutung haben Metonymien in diesen Fällen?

Die gedankliche Stoßrichtung der Autorin ist klar: so wie sie entgegen aller Aussagen der Hochtheologie nicht daran glaubt, dass Gläubige dem kleinsten Knochen ebenso viel an Wirkkraft zutrauten wie dem gesamten heiligen Leib, glaubt sie auch nicht daran, dass Reliquien die symbolische Aufwertung des Reliquiars unbeschadet überstanden hätten. Ein Beispiel mag hier genügen: wenn - wie in einem Mirakel beschrieben - sich ein betrunkener Goldschmied in den gerade im Entstehen begriffenen Schrein des Londoner Stadtheiligen Erkenwald legt und ausruft: "Ich bin der Hl. Erkenwald!", ist das dann zwangsläufig ein Zeichen dafür, dass dem Schrein selbst eine Macht innewohnt, die sich der Betrunkene nun anmaßt? Könnte es sich hier denn - zugegebenermaßen interpretatorisch ungleich schlichter - nicht auch um ein Beispiel menschlicher superbia handeln, die künstlerisch ins rechte Licht gerückt wird?

Von großer Bedeutung sind die Ausführungen der Autorin zu den Reliquienwächtern, den sogenannten shrine keepers, custodes pignorum oder feretrarii (90-98). Sie, die als Bindeglied zwischen Pilgern und Schrein wirken, können jenseits ihres praktischen Tuns, das auf den Schutz der Reliquien hin ausgerichtet ist, durch eigene schriftliche Werke wie z. B. Reliquienlisten dazu beitragen, die Bedeutung des jeweiligen Heiltums zu steigern - die Beispiele, die die Autorin hier anführt, geraten recht eindrucksvoll.

Selbstverständlich gerät einmal mehr Chaucers "Pardoner's Tale" in den Blickpunkt des Interesses, wobei die Autorin den kriminellen Ablassverkäufer nicht nur als "private entrepreneur" (133), sondern als "parodic relic custodian" (126) identifiziert. Neben weiteren Texten aus dem Gralszyklus sind es die Traktate aus dem Umfeld der Lollardenbewegung, denen einige der interessantesten Seiten der Untersuchung gewidmet werden, weist die Autorin darin doch nach, dass Wycliff und die meisten seiner Anhänger nicht den Reliquienkult per se, sondern allein seine Auswüchse, zu denen die prächtigen Reliquiare zählten, verurteilten. Ganz offensichtlich war im Lollardentum das Bewusstsein für ein Auseinanderfallen von Zeichen und Bezeichnetem (und damit die Einsicht in die Begrenztheit sprachlichen Ausdrucksvermögens) besonders ausgeprägt.

Nicht allein die abendländische Zivilisation begreift den menschlichen Körper als etwas Heiliges und ringt um den rechten Umgang mit dieser Heiligkeit. Dieses mitunter problematische Ringen steht im Zentrum eines jeden Reliquiendiskurses mit direkten Auswirkungen auf Diskussionen um die menschliche Existenz: wie lebt man, wie stirbt man, wie interpretiert man den Tod, was bleibt nach dem Tod? Reliquien - egal ob sie verehrt oder abgelehnt werden - erzählen dem Menschen etwas darüber, wer er ist. Deutlich wird: "den" Reliquiendiskurs gibt es nicht - jeder Autor findet seinen eigen, in hohem Maße interpretationsbedürftigen Diskurs. Malos Buch regt zum Nachdenken, mitunter auch zum Widerspruch an: Sicherlich nicht das Schlechteste, was man über eine wissenschaftliche Arbeit sagen kann.

Ralf Lützelschwab