Steffen Siegel: Belichtungen. Zur fotografischen Gegenwart (= Bild und Text), München: Wilhelm Fink 2014, 344 S., 23 Farb-, 120 s/w-Abb. , ISBN 978-3-7705-5708-0, EUR 39,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Martina Dobbe: Fotografie als theoretisches Objekt. Bildwissenschaft, Medienästhetik, Kunstgeschichte, München: Wilhelm Fink 2007
Christian Rattemeyer u.a. (eds.): Exhibiting the New Art. 'Op Losse Schroeven' and 'When Attitudes become Form' 1969, London: Koenig Books 2010
Stefan Lüddemann: Blockbuster. Besichtigung eines Ausstellungsformats, Ostfildern: Hatje Cantz 2011
Das Lamento über den schlechten Stand der Theorie scheint zum rhetorischen Habitus zu gehören, der neben der generellen Bewertung des Forschungsstandes zugleich eine Legitimation der eigenen Fragestellung und deren Dringlichkeit gewährleistet. Gerade für den Bereich einer Theorie der Fotografie, zu der in den letzten Jahren gleichwohl eine nicht geringe Menge an Publikationen erschienen ist, scheint dies - wie Florian Arndtz jüngst noch unfreiwillig bestätigte [1] - nach wie vor unabdingbar zu sein. Umso erfrischender liest sich nun der gänzlich uneitle Verzicht auf solche akademischen Floskeln, den Steffen Siegel soeben mit seinem Buch "Belichtungen. Zur fotografischen Gegenwart" abgeliefert hat.
Dieser durch und durch ambivalente Titel ist jedoch heikel gewählt: Haupt- und Untertitel werfen, was nicht per se schlecht sein muss, bereits die Frage nach der Vereinbarkeit auf. Geht (oder gar: gibt) es in der zeitgenössischen Fotografie, mithin im digitalen Zeitalter, überhaupt noch klassische "Belichtungen"? Ist das nicht ein Anachronismus? Und welche Gegenwart ist hier überhaupt gemeint: Geht es um zeitgenössische Fotografie oder um eine Aktualität der Fotografie, wie sie bereits von Michael Fried behauptet wurde? [2] Oder was soll eine "fotografische Gegenwart" sein?
Siegel geht auf diese drängenden Fragen gleich auf den ersten beiden Seiten seines Buches ein, indem er erklärt, sowohl die Gegenwart im fotografischen Bild als auch die Gegenwart der Fotografie in den Blick nehmen zu wollen und zugleich eine ontologische Bestimmung der Fotografie als eine historisch wie auch methodisch falsche Fragestellung entlarvt (vgl. 9f.). Vielleicht hätte er dann jedoch auch einen anderen Titel für seine Publikation wählen sollen. Siegel entschädigt den Leser freilich umgehend dadurch, dass er seinen allgemeinen theoretischen Ausführungen sogleich konkrete Bildanalysen folgen lässt. Auf den folgenden zwölf Seiten beeindruckt er durch konzise Betrachtungen zu Philipp Goldbachs neusten fotografischen Appropriationen einer frühen Gemälde-Serie von Frank Stella, die lediglich die spezifische Differenz der Objekthaftigkeit der Malereien des Amerikaners aus den Sechzigerjahren außer Acht lässt.
Anschließend wechselt Siegel die Perspektive mit dem neuen Kapitel zum Thema "analog / digital". Am Beispiel des Werks von Adrian Sauer setzt er sich auf 15 Seiten mit einem grundlegenden Problem der zeitgenössischen Fotografie auseinander (vgl. 23-37). Nicht nur dort kann man viel über die medientechnischen Grenzen und Möglichkeiten des fotografischen Bildes erfahren, wenn Siegel auf Sauers Projekt der "Restlosigkeit" (25) eingeht, dass sich die Grenze der Differenzierbarkeit des menschlichen Auges zunutze macht und - durchaus dem bildnerischen Design von Gerhard Richter ähnelnd - zu einem Bild aus 16.777.216 Pixeln gelangt. Spätestens nach der Lektüre dieses Kapitels wird dem Leser aber auch bewusst, was das Buch erst auf der vorletzten Seite verschämt offenlegt und ansonsten verschweigt: dass es sich nämlich um eine Sammlung von 15 Aufsätzen handelt, von denen lediglich vier Beiträge hier erstmals veröffentlicht werden. Das ist nicht weiter tragisch, erscheint aber gerade vor dem Hintergrund des ohnehin schon irritierenden Buchtitels eher ungeschickt.
Darüber hinaus mag der Leser sich nach der Lektüre des zweiten Kapitels auch fragen, nach welchen Kriterien Siegel seine fotografischen Beispiele auswählt. Seine Ausführungen zu Philipp Goldbach, Jan Wenzel, Peter Hendricks, Frank Höhle, Evgen Bavčar, Shizuka Yokomizo oder Sebastian Stumpf erwecken nicht gerade den Verdacht, dass er ein "Agent" eines allgegenwärtigen Kunstmarkts sei, von dem sich doch die hehre Wissenschaft fern zu halten habe. Alternativ dazu scheint Siegel im öffentlichen Diskurs andere künstlerische Positionen stark machen zu wollen, die einer eher akademischen Optik entsprechen. [3] Unabhängig davon kommt Siegel in seinen Beiträgen aber auch auf fotohistorisch etablierte Positionen zu sprechen, wenn er etwa die bildanalytische Fotografie von Ugo Mulas und Timm Rautert miteinander vergleicht (vgl. 91-107), Rauterts Bildnis-Serie "Deutsche in Uniform" (109-132), homoerotische Dimensionen bei Duane Michals herausarbeitet (133), das Verhältnis von Abstraktion und Gegenständlichkeit bei Cy Twombly untersucht (151-164) oder die fotografische Museologie von Thomas Struth betrachtet (165-180). Sowohl im Hinblick auf seine in den einzelnen Beiträgen immer wieder aufscheinenden Exkursen zur Theoriegeschichte wie auch bei den Bildanalysen selbst vermag Siegel durchgängig zu überzeugen. Nicht einmal aufgrund der geschmeidigen Sprache, mit der Siegel den Leser durch seine Gedankengebäude führt, möchte man fast meinen, dass er sich das hohe Reflexionsniveau der von ihm besprochenen Fotografien borgt; doch tatsächlich kommt man nicht umhin zu sagen, dass diese Bilder umgekehrt selten in so souveräner Weise betrachtet worden sind wie durch Steffen Siegel.
Selbst also wenn das Thema des Buches durch einen präziseren Titel besser umrissen wäre, manche allgemeinen Fragestellungen (wie z.B. die der Collage, des seriellen Erzählens oder des Digitalen) auch in Zukunft noch umfassender behandelt werden sollten und auch Siegels nicht immer nachvollziehbare Auswahl der Künstlerinnen und Künstler (denn nur für eine solche Art der Fotografie interessiert sich Siegel) einige Wünsche offen lässt, handelt es sich bei "Belichtungen" um eine der wenigen Publikationen zur jüngeren Fotografie-Geschichte, die unbedingt in einer wissenschaftlichen Bibliothek zum Thema Aufnahme finden müssen. Sein Autor, der fast zeitgleich mit einem Überblick zur Fotografie des 19. Jahrhunderts hervorgetreten ist [4], enthüllt sich als ein Kunsthistoriker ohne historische Scheuklappen, von dem wohl nicht nur im Blick auf die Fotografie auch zukünftig noch einiges zu erwarten sein dürfte.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Florian Arndtz: Philosophie der Fotografie, Paderborn 2013.
[2] Vgl. Michael Fried: Why photography matters as art as never before, New Haven / London 2008.
[3] Vgl. Steffen Siegel: Erinnerung an den Klang der Bilder, in: Philipp Goldbach: Read Only Memory, Wiesbaden 2014, 80-83; Philipp Goldbach: Read only Memory, (Ausst.-Kat.) Museum Wiesbaden 2014, 80, 82 wiederabgedruckt in: Rundbrief Fotografie 21 (2014), Nr. 1+2, 5ff. sowie Kunsthistorische Bilderflut. Über Philipp Goldbachs Installation "Sturm" im Museum Wiesbaden, in: taz, 26.2.2014.
[4] Vgl. zuletzt: Steffen Siegel (Hg.): Neues Licht. Daguerre, Talbot und die Veröffentlichung der Fotografie im Jahr 1839, Paderborn 2014.
Stefan Gronert