Duco Hellema / Friso Wielenga / Markus Wilp (Hgg.): Radikalismus und politische Reformen. Beiträge zur deutschen und niederländischen Geschichte in den 1970er Jahren (= Niederlande-Studien; Bd. 53), Münster: Waxmann 2012, 214 S., ISBN 978-3-8309-2751-8, EUR 29,90
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Der 2012 erschienene Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die im November 2009 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster stattfand. Organisatoren waren damals das Zentrum für Niederlande-Studien und Duco Hellema, Professor für internationale Beziehungen an der Universität Utrecht. Hellema ist der Mitherausgeber des Sammelbandes und Autor des ersten Aufsatzes, der sich dem aktuellen Forschungsstand widmet. Er verwendet drei Geschichtsbilder als Rahmen für die niederländische, deutsche und angelsächsische Forschungsliteratur: das Bild des "roten Jahrzehnts" (1); das der 1970er Jahre als einer Periode von Individualismus und Desintegration (2); und als drittes Bild die neoliberale Revolution (3). Das erste Bild, das des "roten Jahrzehnts", wird im Folgenden in zwei politisch-historischen Aufsätzen gut herausgearbeitet. Hier leistet der Sammelband den größten Beitrag zur Geschichtsschreibung über die 1970er Jahre.
Ein deutscher und ein niederländischer Autor - beide haben ihre Wurzeln in der Sozialdemokratie - widmen sich der Beschreibung der politischen Kulturen ihrer beiden Länder. Der deutsche Historiker Bernd Faulenbach prägt den Begriff der "Fundamentalpolitisierung", mit dessen Hilfe er das steigende Interesse und die zunehmende Partizipation an politischen Prozessen beschreibt. Faulenbach unterstreicht das allgemeine, gesellschaftliche Engagement während der sozial-liberalen Koalition von 1969 bis 1982: "Politik rückte für einige Jahre geradezu in das Zentrum des Wollens vieler Menschen" (37). Der niederländische Autor Frans Becker schließt sich diesem politisch-kulturellen Ansatz an. Becker, ehemaliger Mitarbeiter der Wiardi-Beckman-Stiftung, dem wissenschaftlichen Institut der sozialdemokratischen Partij van de Arbeid (PvdA), verwendet die Regierungsperiode der Regierung den Uyl (1973-1977) als Basis für seine Analyse. Der charismatische PvdA-Politiker Joop den Uyl verband verschiedene Parteien auf der linken Seite des politischen Spektrums, musste jedoch in einer Fünf-Parteien Koalition mit christlich-konservativen Parteien gemeinsam regieren. Die Regierung den Uyl wurde ein Höhepunkt der siebziger Jahre, weil demokratischer Idealismus und Engagement in einem politischen Programm zusammenkamen, das auf die gerechte Verteilung von Wissen, Macht und Einkommen abzielte. Gleichzeitig stellte die Regierung einen Wendepunkt dar, da politische Ideale mit der schwierigen Praxis politischer Reformen konfrontiert wurden.
Faulenbach verbindet in seinem Beitrag den Prozess der Fundamentalpolitisierung mit den neuen sozialen Bewegungen und der RAF. Hieran anknüpfend enthält der Sammelband drei Aufsätze zum Themenkomplex linksalternatives Milieu und Gewalt. Es ist etwas unbefriedigend, dass diese keinen Bezug zur allgemeinen politischen Kultur der 1970er Jahre herstellen. Daniel Schmidt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen, gelingt die Einbettung der Hausbesetzerbewegung in die politisierte Kultur der 1970er Jahre noch am besten. Sein Aufsatz macht die unterschiedlichen Motive der Hausbesetzer deutlich. Interessant ist die Verschiebung der Ideale: vom hoch engagierten, auf alternative Lebensstile fokussierten Hausbesetzer Anfang der 1970er Jahre hin zu der fast eskapistischen Haltung der Punk-Szene zu Beginn der 1980er Jahre. Maarten van Riels Aufsatz zum Thema Linksradikalismus in den Niederlanden ist sehr informativ, bleibt aber beschreibend. Beatrice de Graaf (Universität Leiden) nähert sich dem Thema ideologisch inspirierter Gewalt mit einer Policy-Perspektive. Sie arbeitet die unterschiedlichen Reaktionen auf Bombenanschläge, Geiselnahmen und Schießereien heraus, geht aber nicht tiefer auf die (unterschiedlichen?) Wurzeln der Gewalt ein. Der explizite Vergleich zwischen Deutschland und den Niederlanden ist aber adäquat und wünschenswert: Gerade der komparative Ansatz macht Besonderheiten deutlich, wie beispielsweise die Tatsache, dass ihre Unerfahrenheit mit Gewalt der niederländischen Regierung sogar dabei geholfen hat, die ersten Terroranschläge zu deeskalieren. De Graaf ist somit die einzige Autorin, die wirklich einen Vergleich zwischen Deutschland und den Niederlanden vornimmt.
Das dritte Bild Hellemas, das Bild der neoliberalen Revolution, ist in den Augen des Rezensenten das Spannendste für die historische Wissenschaft. Wie verschiedene Autoren dieses Sammelbandes unterstreichen, sind die 1970er Jahren ein Jahrzehnt des Übergangs. Das Ende der Nachkriegszeit, in der Politik in erster Linie auf staatliche Sicherung der Lebensqualität abzielte, stellt die Zäsur dar. Die politische Macht stieß an die Grenzen ihrer gestalterischen Kraft. Der Prozess der Reflexion der Rolle der Politik und der politischen Kultur wurde durch die wirtschaftlichen Entwicklungen beschleunigt. Kees van Paridon, Wirtschaftsprofessor an der Erasmus-Universität Rotterdam, vergleicht die Wirtschaftsentwicklungen und Wirtschaftspolitiken beider Länder. Van Paridon schließt sich der allgemeinen Sichtweise an, dass "keynesianistische Medizin" nicht länger funktionierte (118) und Wirtschaftspolitik sich daher in Richtung strukturorientierter und monetaristischer Instrumente bewegte. Das stimmt zwar, die wirtschaftspolitische Wirklichkeit ist seit den 1970er Jahren aber ein Mix aus Keynesianismus, Monetarismus und Innovationspolitik. Die Fragen, wie das Ende der Hegemonie keynesianistischen Denkens zustande kam und warum die alte Ideologie trotzdem weiterlebte, bedürfen weiterer Aufmerksamkeit. Auch in den politisch-historischen Aufsätzen des vorliegenden Bandes ist wenig Platz für die Analyse der Entwicklung alternativer, neo-liberaler Ideen.
Der 53. Band der Reihe Niederlande-Studien ist somit eine Illustration der Geschichtsschreibung der 1970er Jahre: Es gibt reichlich Analysen des linken Milieus, Studien zur Entwicklung liberaler Politik sind dagegen selten. Die Chance für eine Vertiefung und die Gewinnung neuer Erkenntnisse, die gerade ein komparativer Ansatz bietet, wurde nicht wirklich genutzt. Ungeachtet dieser kritischen Anmerkungen ist der Band ein wertvoller Beitrag zur Geschichtsschreibung der 1970er Jahre. Die Aufsätze bringen interessante Begriffe und Ideen in die Debatte ein, machen niederländische Entwicklungen in deutscher Sprache zugänglich und stimulieren somit den deutsch-niederländischen Vergleich. [1]
Anmerkung:
[1] Der Rezensent dankt Katharina Garvert-Huijnen für die Überprüfung der deutschen Rechtschreibung.
Marijn Molema