Rezension über:

Friso Wielenga: Geschichte der Niederlande, Stuttgart: Reclam 2012, 461 S., 8 Kt., ISBN 978-3-15-010893-2, EUR 17,95
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Rezension von:
Astrid Ackermann
Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Astrid Ackermann: Rezension von: Friso Wielenga: Geschichte der Niederlande, Stuttgart: Reclam 2012, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 12 [15.12.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/12/21950.html


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Friso Wielenga: Geschichte der Niederlande

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Wann beginnt die Geschichte eines Landes? - Das ist die Frage, die Friso Wielenga an den Anfang stellt. Seine Geschichte der Niederlande beginnt klassisch mit dem Achtzigjährigen Krieg und einem kleinen Rückgriff auf die burgundische Zeit.

Im Zentrum steht die Frage nach der Politischen Kultur der Niederlande. Ihr Besonderes liege in der Ausrichtung am Konsens: Schon im Achtzigjährigen Krieg sei das Verhandeln notwendiges Politikprinzip geworden, und es habe das Land bis ins ausgehende 20. Jahrhundert geprägt. Daneben stehen die Frage nach der Toleranz und dem Pragmatismus und ihrem Verhältnis zueinander und jene nach den Vor- und Nachteilen dezentraler Strukturen oder einer starken Zentralmacht. Chronologisch ausgerichtet, behandeln die fünf Kernkapitel jeweils die Innen- und Außenpolitik, die Wirtschaft und - knapper - das kulturelle Leben.

Kapitel eins zeigt, wie die Republik der Vereinigten Niederlande entstand, unbeabsichtigt, in einer sich zur unumgehbaren "Wahl zwischen Aufstand und Unterwerfung" (44) zuspitzenden Entwicklung. Die aufständischen Gruppierungen habe nur die Opposition gegen die Politik Philipps II. geeint. Wilhelm von Oranien sei es um die Einheit der 17 Provinzen gegangen, um "religiöse Pluriformität und Toleranz", nicht zuletzt um die eigene Machtposition und die des weiteren Hochadels. Obwohl in den ersten beiden Punkten gescheitert, habe er den Aufstand geprägt: Unter ihm sei eine "einzigartige Form der Gewissensfreiheit" und "weitreichende [...] Religionsfreiheit" entstanden (56f.).

Die Republik sei pragmatisch mit dem Religiösen umgegangen. Das erkläre sich vorrangig aus dem Interesse der Regenten an politischer Stabilität und Wohlfahrt in einem Land, in dem die Reformierten keineswegs die Mehrheit stellten. Die reformierte Kirche wurde zwar Öffentlichkeitskirche und die Zugehörigkeit zu ihr zumindest offiziell Voraussetzung für die Bekleidung der Staatsämter, Angehörige anderer Konfessionen und Juden aber lebten freier als andernorts. Das Goldene Zeitalter ist zudem wesentlich mit dem ökonomischen Aufstieg der Republik und ihrem Einflussgewinn in der internationalen Politik verbunden (Kapitel zwei). Anschaulich erklärt Wielenga den Weg zur Handelsmacht und verdeutlicht dabei vielfältige Zusammenhänge, so von Getreideimporten, Torfgewinnung, Wasserwegen und Wirtschaftswachstum. Der Salzhering, der Holzhandel, die Zuckerraffination, der Linienbinnenschiffsverkehr, die Tulpenkrise - es kommt alles vor. Wielenga weist auf die starke Stellung des Bürgertums und die Urbanisierung hin, mehr am Rande auch darauf, dass die Republik zugleich als europäische Vorreitergesellschaft in der Bildung, den Wissenschaften, der Kunst und Architektur, im Wohlstandsniveau gilt; kein Thema sind die von zeitgenössischen Beobachtern konstatierten größeren Freiheiten der Frauen. Dass die entscheidenden Entwicklungen sich in den reichen Kernprovinzen abspielten, in Holland zumal, reflektiert Wielenga durchaus. Dagegen ist auch hier wie zumeist kaum etwas über die Generalitätslande zu erfahren.

Das "Katastrophenjahr" 1672, das das Land an den Abgrund führte und die erste statthalterlose Periode beendete, ist für Wielenga, abgesehen vom Kunstmarkt, kein bleibender Einschnitt. Die Republik habe sich rasch vom Überfall der Koalition von Frankreich, England, Münster und Köln erholt: Ökonomisch habe es eine "Stagnation auf einem immer noch hohen Niveau" (163) gegeben, politisch unter Wilhelm III. den Höhepunkt des internationalen Einflusses. Im 18. Jahrhundert aber sanken die Niederlande zur zweitrangigen Macht herab (Kapitel drei). Der jetzt einsetzende "absolute Niedergang" (196) machte sie zum Objekt der europäischen Politik. Als Ursachen benennt Wielenga vor allem den Innovationsrückstand, der aus dem technologischen Vorsprung des 17. Jahrhunderts resultiert habe, eine institutionelle Reformstarre, die hohe Staatsverschuldung - und: das Aufholen der Anderen, die verstärkte internationale Konkurrenz in machtpolitischer wie ökonomischer Hinsicht.

Zudem wird der Niedergang mit den dezentralen Strukturen der Republik begründet. Allerdings hat ja das Fehlen eines starken "personifizierten Machtzentrums" (96) auch nicht den Aufstieg behindert. Ein durchsetzungsfähiger Einheitsstaat, eine stärkere Zentralisierung, erscheint mehrfach als Weg aus den verschiedenen Krisen. Ob sich das auf Europa übertragen ließe? Die Zeitgenossen jedenfalls benannten dieses Problem einer fehlenden übergeordneten Instanz und erklärten zugleich den Niedergang mit einem moralischen Verfall. Er wurde geradezu zur Obsession. Die Rettung musste folglich in der moralischen Erneuerung liegen, verbunden mit der Besinnung auf die Nation. Das waren zentrale Themen der niederländischen Aufklärung. Sie, betont Wielenga, habe keine Radikalisierung wie die französische gekannt, weil kein Umsturz nötig war. Ein Beispiel dafür wäre Balthasar Bekker, der mit seiner Kritik am Teufels- und Hexenglauben aus dem Glauben heraus den Weg zu einem aufgeklärten Christentum bahnte und auch in den Nachbarländern diskutiert wurde. Wielenga verweist allerdings selbst mit Spinoza auf radikalere Positionen.

Kapitel vier beschreibt den Weg der Niederlande zum liberalen Staat. Ein Schwerpunkt liegt auf der Verfassungsgebung: der liberalen Verfassung von 1848 und der Einführung der parlamentarischen Demokratie 1917. Einen zweiten Schwerpunkt bildet der Schulkampf. Wielenga verfolgt die Geschichte der Oranier weiter, ihre Restauration nach dem Ende der französischen Zeit und ihre Entwicklung zum Nationalsymbol, für das der 1885 erstmals gefeierte Prinzessinnentag entscheidend wurde, der Vorläufer des Königinnentages. Er erläutert die verhältnismäßig späte Industrialisierung, unter anderem die Rheinschifffahrt als zentralen Wachstumssektor seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Staat habe sich infolge des Ersten Weltkrieges vermehrt als Wirtschaftsakteur betätigt, wie bei der Einpolderung der Zuiderzee. Als weitere neue Konstanten entwickelten sich die Versäulung und die Strategie der "Anpassung" - an den reformunwilligen König in der Restauration, an die deutsche Besatzung in der Kriegszeit, an die Protestbewegungen in den späten 1960er Jahren.

Kapitel fünf, das auf Wielengas Buch zur politischen Kultur der Niederlande im 20. Jahrhundert basiert [1], betont gleichfalls die politischen Kontinuitäten; es gebe aber einen Bruch nach dem Zweiten Weltkrieg, indem das Land im westlichen Bündnis aktiv wurde. Die Gegenwartsanalyse zeichnet das Bild eines tiefgreifenden Verfalls der politischen Kultur, einer neuen Verfallsgeschichte. Wielenga spricht den Rechtspopulismus an, politische Instabilitäten, die Probleme der Globalisierung und der Integration von Migranten - das Thema Migration kommt daher im Band wiederholt zur Sprache. Und er paraphrasiert Paul Scheffers These, Toleranz meine in den Niederlanden im Grunde Gleichgültigkeit.

Wie fast jedes Überblickswerk bietet auch dieser Band hier und da Anlass zur Kritik. An manchen Stellen wäre ein Hinweis auf vergleichbare Prozesse andernorts fruchtbar gewesen, so beim Bemühen der Akteure des Aufstands um Legitimität, einer ebenso typischen Vorgehensweise der Frühen Neuzeit wie das Aushandeln und die Orientierung am Konsens. Insgesamt aber ist dieses Niederlandebuch mit seinem politisch-ökonomischen Fokus anschaulich geschrieben, informativ, gut handhabbar auch durch die den Kapiteln vorangestellten Überblicke mit Zeittafeln, kurz: mit Gewinn zu lesen.


Anmerkung:

[1] Friso Wielenga: Die Niederlande. Politik und Kultur im 20. Jahrhundert, Münster 2008.

Astrid Ackermann