Jonathan Haslam / Karina Urbach (eds.): Secret Intelligence in the European States System, 1918-1989, Stanford, CA: Stanford University Press 2013, VIII + 246 S., ISBN 978-0804-78359-0, USD 56,00
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Geheimdienst-Historiker hätten sich bislang zu wenig in den "Mainstream" der Diplomatie- und Militärgeschichte eingeordnet, so Jonathan Haslam und Karina Urbach in ihrer Einleitung dieses schmalen Sammelbandes mit sieben Beiträgen. Wenn sie darüber klagten, die Geschichtsschreibung hätte das Wirken der Dienste zu oft ignoriert, müssten sie sich stattdessen vielmehr fragen lassen, ob sie es nicht selbst immer wieder versäumten, ihr in den Arkanbereichen staatlichen Handelns liegendes Untersuchungsobjekt an die "herkömmliche" Geschichtsschreibung anzuschließen. Es gelte aber ebenso zu vermeiden, der einst als missing dimension [1] charakterisierten Geschichte der Geheimdienste und der Spionage nunmehr gleichsam kompensatorisch eine übertriebene Bedeutung zuzuschreiben.
Welche Fragestellung haben die Herausgeber nach dieser Kritik ihren Autoren mit auf den Weg gegeben? Die Texte drehen sich um die Wechselwirkungen geheimdienstlicher Tätigkeit und politischer Entscheidungsprozesse im europäischen Staatensystem zwischen 1918 und 1989. Nicht um die handwerkliche Effektivität der Beschaffung geht es, sondern um die Verarbeitung und Wahrnehmung nachrichtendienstlicher Produkte im politischen Raum sowie um das Standing der Dienste in ihren Ländern. Secret intelligence wird hier eng in den innenpolitischen Kontext - und bei den besten Aufsätzen auch: in die gesellschafts- und mentalitätsgeschichtliche Landschaft - der einzelnen Staaten eingebettet. Trotz des ambitionierten Titels werden nur Schlaglichter präsentiert und mit zwei Beiträgen zur Sowjetunion, zwei zu Frankreich, zwei zu Deutschland und einem Text zu Großbritannien die "üblichen Verdächtigen" betrachtet. Es wäre der Vollständigkeit halber zu Protokoll zu nehmen, dass es inzwischen auch valide Forschungen beispielsweise zu den skandinavischen, niederländischen und bulgarischen Diensten wenigstens für die Zeit nach 1945 gibt.
Mitherausgeber Haslam beschäftigt sich in seinem Aufsatz über die sowjetischen Dienste zwischen 1917 bis 1941 mit der Konkurrenz zwischen Militärgeheimdienst und dem zentralen "zivilen" Dienst (GPU und Nachfolger), den Problemen einer anfangs nicht konkurrenzfähigen technischen Spionage (signals intelligence) und einzelnen Spionage- wie Verratsfällen. Deutlich wird, dass es drei Schwachstellen gab: neben technischen Unzulänglichkeiten fehlte eine systematische Analyse der Spionageergebnisse, und darüber hinaus blockierte permanentes Misstrauen die Dienste. David Holloway fragt, welche Bedeutung die sowjetische Spionage für den Kriegsbeginn im Juni 1941 und für den Bau der Atombombe besaß. Kaum überraschend betont er die zentrale Rolle Stalins für die Bewertung der eingegangenen Informationen; ein unabhängiges, professionelles "clearinghouse" fehlte. Holloway zeigt aber, dass die vielfachen Informationen, die auf einen Angriff Hitler-Deutschlands verweisen, nur im Nachhinein ein wirklich eindeutiges Bild liefern. Stalin verstand den rassenideologischen Charakter der nationalsozialistischen Weltanschauung nicht und wollte die Deutschen nicht durch eigene Mobilisierungsmaßnahmen provozieren, in der Hoffnung, den auch von ihm erwarteten Krieg mit Deutschland aufschieben zu können. Im Unterschied zu "Barbarossa", wo militärstrategische Spionage vom Kremlherrn letztlich fehlbewertet wurde, reagierte er nach Hiroshima und Nagasaki mit einer Forcierung des sowjetischen Atombombenbaus - nachdem zuvor nicht klar war, was die Amerikaner letztlich mit der Bombe beabsichtigten und wie sich diese strategisch auf die Weltpolitik auswirken würde. Im Unterschied zur fehlenden politischen war die erfolgreiche wissenschaftlich-technische Spionage für das Tempo, in dem die Sowjetunion danach ihre Kernwaffenfähigkeit erlangte, eminent.
Stephen A. Schuker verbindet die politische Geschichte Frankreichs in der Zwischenkriegszeit mit der gesellschaftlichen Verfasstheit des Landes und zeigt, wie sich dies auf den nachrichtendienstlichen Apparat auswirkte. Demographische Entwicklung, verbreiteter Antimilitarismus und militärische Fehlentwicklungen, z.B. bei der Luftwaffe und Panzertruppe, ließen sich durch einen in verschiedene Sektionen atomisierten Nachrichtendienst, der heftig vom Außenministerium befehdet wurde und unter Budgeteinschränkungen litt, nicht abfedern. Nicht der französische Geheimdienstapparat hat demnach beim deutschen Angriff 1940 versagt - eine ganze Nation kollabierte (114).
Der Altmeister der französischen Forschung zum Kalten Krieg, Georges-Henri Soutou, steuert einen Bericht zur Aufklärung der Grande Nation gegen den Ostblock von 1945 bis 1968 bei. Soutou kann zeigen, dass der zentrale Auslandsnachrichtendienst SDECE im Zusammenspiel mit dem Deuxième Bureau, den Militärattachés und der französischen Militärmission in der DDR in der Lage war, "sound conclusions" zu liefern. Grundlage war nicht die direkte Penetration der osteuropäischen Streitkräfte, sondern die kontinuierliche Beobachtung des militärischen Aufmarschpotentials in Form von Infrastruktur, Rüstungsökonomie und Logistik. In den Korridoren der Macht in Paris wurden jedoch die aus Spionage gewonnenen Erkenntnisse nicht im gleichen Maße gewürdigt wie in London und Washington.
60 Prozent der britischen Spionage richteten sich gegen den Ostblock. Richard J. Aldrich kommt in einer Hinsicht zum gleichen Ergebnis wie Soutou: Beide Länder ließen sich im Unterschied zu den USA von der sowjetischen Gefahr nie psychologisch überwältigen; ein europäisches Pendant zum McCarthyismus gab es nicht. Und gerade die nachrichtendienstliche Dislozierung der übrigen 40 Prozent in (ehemaligen) Kolonialgebieten machte die Briten zu einem der wenigen global player im Spionagegeschäft und damit zu einem engen Verbündeten der USA.
Die beiden letzten Beiträge wenden sich deutschen Diensten zu. Oliver Bange untersucht Reaktionen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR auf Transformationsstrategien des Westens in der Ära der Entspannungspolitik. Obwohl durch gut platzierte Quellen über die Bonner Ostpolitik (und übrigens auch über Moskauer Intentionen) in vielen Einzelheiten informiert, gelang es der Stasi letztlich nicht, die komplexen bilateralen wie KSZE-Verhandlungen analytisch zu durchdringen und der "Aggression auf Filzlatschen" eine wirkungsvolle Strategie entgegen zu setzen. Dieses Defizit beruhte auf den politischen Zwängen der SED-Politik unter sowjetischem Einfluss, aber auch auf der Unfähigkeit des MfS, ein ideologiebereinigtes Lagebild zu erstellen. Wo außenpolitisch geheimdienstliche Mittel nicht weiterführten, mussten innenpolitisch geheimpolizeiliche Maßnahmen angewandt werden, um den Einbruch westlicher Positionen in die DDR-Gesellschaft aufzufangen.
Über den Bundesnachrichtendienst urteilt Holger Afflerbach wie andere Autoren vor ihm, dass dessen militärische Ostaufklärung durchaus als Erfolg anzusehen ist. Aber zumindest in der Amtszeit seines ersten Präsidenten Reinhard Gehlen war der Dienst von einer ideologischen Mission getrieben: einem Antikommunismus, der auf dem rechten Auge blind machte (und auch dazu führte, dass die Gehlen-Truppe schwerbelastete NS-Verbrecher in ihren Sold stellte). Dieser frühe BND, darin ist dem Autor zuzustimmen, war eine Fortsetzung der alten Abteilung "Fremde Heere Ost" des Generalstabes des Heeres unter den Bedingungen des Kalten Krieges.
Ist der Sammelband nun gelungen? Das Anliegen der Herausgeber, nämlich die "critical importance of the prevailing circumstances in which intelligence operates" (10), also den vornehmlich innenpolitisch-gesellschaftlichen Referenzrahmen herauszuarbeiten, wird in den meisten Beiträgen prägnant erfüllt, besonders bei Schuker, Bange und Holloway; letzterer führt zudem in seiner sorgfältigen Analyse an dem berühmten Beispiel der sowjetischen Fehleinschätzung über einen deutschen Angriff im Sommer 1941 vor, wie differenziert über Erfolg und Misserfolg von secret intelligence in der Rückschau zu werten ist.
Gleichwohl scheinen mir die Herausgeber doch ein wenig Eulen nach Athen zu tragen. [2] Dass sich Geheimdienstgeschichte historiographisch nicht in einem engen Fachverständnis verlieren darf, ist nicht neu. Dass zudem nicht die operative Gewinnung von raw intelligence, sondern gerade erst deren Verarbeitung zu einem belastbaren Geheimdienstprodukt und dessen Rezeption in Politik und Administration zentrale Antworten auf die Frage nach Nutzen und Grenzen von secret intelligence bereithält, ist aus den meisten Beispielen dieses Bandes eindrucksvoll abzuleiten - damit aus der vormals (inhaltlichen) missing dimension keine (methodische) lost dimension wird.
Anmerkungen:
[1] So in Anspielung an einen Klassiker aus den Anfängen der frühen britischen intelligence history: Christopher Andrew / David Dilks (eds.): The Missing Dimension. Governments and Intelligence Communities in the Twentieth Century, London 1984.
[2] Für die deutsche Geschichtsschreibung sehe ich trotz der umfangreichen "Stasi"-Forschung und der mittlerweile in Gang gekommenen Aufarbeitung der Geschichte westdeutscher Dienste insgesamt einen erheblichen Nachholbedarf. Besonders augenfällig wird dies über einzelne Projekte hinaus, wenn auch theoretisch zur Rolle der Dienste hierzulande wenig reflektiert wird. Vgl. etwa den allgemein gelobten, systematisierenden Sammelband von Jost Dülffer / Wilfried Loth (Hgg.): Dimensionen internationaler Geschichte, München 2012 [http://www.sehepunkte.de/2013/07/22257.html]: Dort werden zwar neben zu erwartenden Lemmata wie "Krieg", "Diplomatie" und "Völkerrecht" auch "Nation Branding" und "Transnationale Familien" mit einem eigenen Beitrag berücksichtigt, kaum nachvollziehbar jedoch nicht "Geheime Nachrichtendienste".
Armin Wagner