Rezension über:

Dorothée Bores: Das ostdeutsche P.E.N.-Zentrum 1951 bis 1998. Ein Werkzeug der Diktatur? (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 121), Berlin: de Gruyter 2010, XVI + 1087 S., ISBN 978-3-11-023385-8, EUR 179,95
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Rezension von:
Elke Scherstjanoi
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Elke Scherstjanoi: Rezension von: Dorothée Bores: Das ostdeutsche P.E.N.-Zentrum 1951 bis 1998. Ein Werkzeug der Diktatur?, Berlin: de Gruyter 2010, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 10 [15.10.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/10/21030.html


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Dorothée Bores: Das ostdeutsche P.E.N.-Zentrum 1951 bis 1998

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In Umfang, Quellenbasis und Zielsetzung beeindruckend, ist diese Dissertation vor allem eine Pionierleistung, eine erste umfassende Strukturgeschichte der DDR-Filiale der internationalen Schriftstellervereinigung, von ihrer Vorgeschichte ab 1946 bis zur Vereinigung der beiden deutschen P.E.N.-Zentren 1998. Sie zielt auf eine "genauere Einordnung des P.E.N.-Zentrums in das Staatssystem der DDR" mit der Maßgabe, die Personen- von der Institutionengeschichte zu unterscheiden (974). Ein Sechstel des Umfangs ist den Konflikten ab 1989 gewidmet.

In der Einleitung kristallisieren sich zwei Leitgedanken heraus: "Ein statischer Befund zur Befindlichkeit der DDR-Intellektuellen ist [...] im Grunde nicht zulässig" (23); und von der These des kollektiven Versagens der DDR-Schriftsteller solle man sich nicht leiten lassen (25). Die zweifellos richtigen Prämissen münden letztlich aber nur in die Beschwörung der genannten Unterscheidung zwischen Personen und Institution. Bores besteht mehrmals darauf, leisten kann sie diese Aufgabe, entgegen ihrer Behauptung im Resümee, aber nicht. Aus einem formell-arbeitstechnischen Grund und wegen einer Verständnisbarriere: Weil die handelnden Personen ohne ihr Werk auch als P.E.N.-Mitglieder nicht einzuschätzen sind, hier aber eine Institutionen- und keine Literaturgeschichte entsteht; und weil Bores zufolge "die Institutionengeschichte eng mit der individuellen ideologischen Ausrichtung der einzelnen Führungspersönlichkeiten verwoben" war (974), wobei sie für "ideologisch" hält, was SED-nah war. "Wie kaum anders zu erwarten, sind unter den Mitgliedern der P.E.N.-Zentren in der DDR, vornehmlich in der Führungsebene, überzeugte Ideologen auszumachen, die sich mit Staat und Partei identifizierten, deutlich Position für das Regime bezogen und zur Übernahme wichtiger Funktionen in der Kulturbürokratie bereit waren." (991) Dabei unterscheidet Bores nicht zwischen Weltanschauung, politischer Haltung, Idee und Ideologie. Abschließend folgt sie dem Urteil anderer, wonach die Legitimität der gesamtdeutsch ausgerichteten Gründung des Ost-P.E.N. von dessen Mitgliedern "durch das Paktieren mit den Mächtigen des SED-Systems" (975) verspielt wurde: umfassende parteiliche Kontrolle, Anbindung an den Kulturbund, enger Kontakte zur Kultur-Abteilung des ZK der SED, zunehmende Steuerungsversuche von dort und Duldung dieser Einmischung, schließlich die Schaffung einer SED-Parteigruppe des P.E.N.-Zentrums. Eine "kommunistisch dominierte Organisation" (981) sollte es aus taktischen Gründen zwar nicht werden, doch habe das ostdeutsche P.E.N. die SED-Deutschlandpolitik mit all ihren Wendungen propagiert, den Friedenskampf mitgetragen und stets Solidarität mit der Sowjetunion demonstriert; verfolgten Schriftstellern im eigenen Land wurde nicht oder lediglich in wenigen persönlichen Einzelaktionen geholfen (981 f.). Als das parteipolitische und staatliche Interesse ab 1985 nachließ, hätten sich Freiräume ergeben. Aktivisten wie Stephan Hermlin seien dann zu "verlässlichen Ansprechpartnern der internationalen P.E.N.-Kollegen" geworden, "gezielte prosozialistische und prosowjetische Offensiven" unterblieben (984 f.), was jedoch den Widerstand einiger "Parteisoldaten" provozierte. Erst am Ende der 1980er Jahre sei auf eine Phase der Lethargie das engagierte Eintreten einzelner P.E.N.-Mitglieder gegen die SED-Literaturpolitik gefolgt. Daher könne dem Ost-P.E.N. der Vorwurf nicht erspart werden, die Instrumentalisierung widerspruchslos hingenommen und oppositionelles Denken nicht verteidigt zu haben. Bores fragt nach den Gründen, zumal sie am Beispiel der Aufnahme von Wolf Biermann und Hans-Joachim Bunge 1965 erkannte, dass "parteipolitische Indoktrination nicht perfekt funktionierte" (988). Ein abschließendes Urteil will sie aber nicht fällen. Stattdessen wiederholt sie unentwegt die erwähnte Unterscheidungsabsicht und muss notgedrungen am Ende doch etwas zu den Personen sagen, aus einer institutionengeschichtlichen Betrachtung heraus, ohne Wege, Werke und Wirkungen analysiert zu haben, "exemplarisch herausgegriffen" und "ansatzweise beleuchtet" (996). Weit unter dem vorgestellten Spektrum an Persönlichkeiten bleibend, differenziert Bores zwischen "Intriganten" und "MfS-Zuträgern" wie Kant und Wiens, "politischen Sorgenkindern" wie Heym, "ambivalenten" Figuren wie Biermann, "punktuell kritische[n] Intellektuellen" wie Christa Wolf, die zugleich "Privilegierte des Systems" war (992-996), und "normalen Mitgliedern".

Bores hat Beachtliches geleistet. In ihrem empirischen Teil ist die Arbeit aufschlussreich und lesenswert, sie überzeugt mit guten Recherchen und profitiert von umfangreichen Quellenauszügen. Diese Entstehungs- und Strukturentwicklungsgeschichte des P.E.N. in der SBZ/DDR, diese Reflexion des deutsch-deutschen Streits um eine P.E.N.-Vertretung und der Kontakte zum internationalen P.E.N., von Personalentscheidungen und einzelnen individuellen Haltungen hilft, eine Forschungslücke zu schließen. Den Aktengrundstock lieferte das Archiv des Ost-P.E.N. in der Akademie der Künste, Berlin. Dort fand sich auch die Hinterlassenschaft wichtiger Personen. Nachlässe im Marbacher Literaturarchiv und in der Berliner Staatsbibliothek, massenhaft personenbezogene Dossiers im BStU-Archiv, Akten des Kulturbundes und des SED-Apparats im Bundesarchiv sowie ost- und westdeutsche Zeitschriftensammlungen wurden zu dichten Beschreibungen herangezogen. Schließlich profitierte Bores von Sven Hanuscheks Recherchen im Londoner P.E.N.-Sekretariat. Den Ost-P.E.N. betreffend konnte sie auf Studien und Material von Helmut Peitsch, Christine Malende, Ursula Heulenkamp, Dieter Schlenstedt und Therese Hörnigk zurückgreifen. An dieser Gesamtdarstellung wird die künftige Forschung zur DDR-Literatur(politik)geschichte nicht vorbei kommen. Hilfreich werden die Übersichten im Anhang sein.

Doch die Lektüre hinterlässt einen tiefen Zwiespalt. Das beginnt beim Formellen. Der vorbildliche Nachweis von Archivquellen erscheint in platzgreifenden Fußnoten, die kein "Ebenda" kennen; Literaturbelege mit indirekten Zitaten sind dagegen oft zu knapp; die erfreulich umfangreichen Quellenauszüge sind satztechnisch diffus präsentiert, unter seltsamer Verwendung von eckigen Klammern. Texte unterschiedlichen Charakters wechseln sich ungeordnet ab: Überblicksdarstellungen, Episodisches, methodische Gedanken, lehrbuchartige Grundaussagen, biografische Notizen, einmal auch ein Ausflug in die Werkgeschichte eines Dramas von Brecht. Durch die konsequent chronologische Darstellung erscheinen wichtige Phänomene regelrecht "zerpflückt" und schlecht zu problematisieren, etwa das der eigenständigen SED-Parteigruppe im Ost-P.E.N. Bores wollte den allgemeinen DDR-geschichtlichen Zäsuren nicht blind folgen, stattdessen aus der inneren Dynamik des Gegenstandes heraus markante Brüche fixieren. Nur geschieht das nicht. Das Material deutet auf Einschnitte, die als solche ignoriert werden, insbesondere Zäsuren mit westdeutschem Bezug, wie die Einladung von DDR-Autoren durch die Zeit-Redaktion in die Bundesrepublik 1960 oder die Wahl Heinrich Bölls zum Präsidenten des westdeutschen P.E.N. 1970. Unterbelichtet sind die widersprüchlichen Jahre 1964/1965. Überhaupt hat Bores eine merkwürdige Vorstellung von der politischen Dynamik im SED-Staat. Permanent verschärft sich alles. Der SED-Einfluss nimmt stetig zu, die Kontrolle greift Raum, die Instrumentalisierung wächst. Verstärkte Anleitung, fortgesetzte Maßnahmen, zunehmende Erstarrung - bis 1985. Einleitend vermerkt Bores zwar, ein "reduktionistisches Argumentationsschema", das auf die Konstatierung einer vollständigen Kontrolle und Lenkung hinausliefe, sei abzulehnen (42). Aber ihre Darstellung ist kein echter Gegenentwurf. Kulturpolitische Wechsel (17. Juni 1953, Bitterfelder Konferenz, Prager Frühling) gehen unter. Das ist natürlich auch eine Folge davon, dass kommunistische Ideologie ein zentrales Argument bei Bores ist, von der sie aber wenig versteht. Sie setzt Politik und Ideologie in eine schlichte Beziehung, übrigens nicht nur bezüglich der SED. Die Frühgeschichte des Nachkriegs-P.E.N. und die Teilung in zwei deutsche Zentren stehen zwar richtig im Kontext des Kalten Krieges und der Konfrontation der Großmächte. Wenn Bores aber den "P.E.N.-Grundsatz des Unpolitischen" nicht kritisch hinterfragt und ihren Quellen in der Forderung nach einer "Einheit der deutschen Literatur" unreflektiert folgt, ohne das deutsche Erbe als Last und Herausforderung zu begreifen, ist das bedenklich. Gerade die Unterscheidung unter den Akteuren bzw. zwischen Personen und Institution hätte verlangt, nach dem gemeinsamen Nenner zu suchen. Ein zentraler Konsens im Ost-P.E.N. war es, antisowjetische Propaganda nicht zu tolerieren - das war kein ideologischer und unter Künstlern eher selten ideologisch begründeter Standpunkt. Derlei wird aber nicht ergründet.

Einen wahren Bärendienst erweist sich die Verfasserin mit dem Versuch, ihre Forschungsergebnisse einzubetten. Das wirkt so wenig Erkenntnis strukturierend, wie es in diesem Ausmaß überhaupt nötig ist. Oder würde jemand längere Ausführungen zum XX. KPdSU-Parteitag oder zum Mauerbau in diesem Überblick erwarten? Kontextualisieren heißt bei Bores: Ein (!) Buch des prominenten Hermann Weber zur Hand nehmen und einige kernige Sätze und Wendungen herausschreiben. Zu oft nicht als Zitat gekennzeichnet, teils sinnentstellend paraphrasiert, soll der fremde Kontext ihre Einsichten historisch verorten. Ja, wir alle nutzen Arbeitsergebnisse anderer, führen etwas fort. Doch Textklau ist die falsche Art der Aneignung. So wird bestenfalls ererbt, nicht erworben.

Elke Scherstjanoi