Peter Ullrich: Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt. Politik im Antisemitismus- und Erinnerungsdiskurs, Göttingen: Wallstein 2013, 208 S., ISBN 978-3-8353-1362-0, EUR 19,90
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Peter Ullrich beschäftigt sich nun schon seit mehr als zehn Jahren mit dem Thema des vorliegenden Buchs. Bereits 2008 veröffentlichte er seine Dissertation, die sich mit linken Nahostdiskursen in Deutschland und Großbritannien auseinandersetzte. [1] Mit seiner neuen Studie will der Autor nun einige Leerstellen füllen und die Debatte zugleich ent-emotionalisieren und ent-moralisieren. Als Soziologe und Kulturwissenschaftler - Ullrich ist derzeit am Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin beschäftigt und widmet sich dort der Erforschung von Sozialen Bewegungen und Konflikten - hat er für sein Buch einen "dezidiert wissenssoziologischen Zugang" gewählt (16). Mit diesem Ansatz will der Autor der Frage nachgehen, "welche Bedingungen das Wissen von Bewegungsakteuren in der Nahostfrage prägen", da seiner Ansicht nach die diskursanalytischen "Begründungen" des linken "Bewegungswissens und die Entstehung ihrer Weltbilder" bislang vernachlässigt worden sind (18). Ullrich wendet sich an "unterschiedliche Zielgruppen, die sowohl in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen [...] als auch im allgemeinen und besonders im linken politischen Diskurs zu verorten sind" (16). Sein Buch versteht sich dabei als "Forschungsbeitrag und Kritik zugleich" (15).
Ullrich gliedert seine Studie in drei große Abschnitte. Im ersten Teil versucht er, "Kernkonzepte" seiner "Analysen der Thematik auszuführen" und "mit diesen den Fall überblickshaft darzustellen und zu erklären" (15). Besonders wichtig ist dabei der Erinnerungsdiskurs, das heißt "die Form der Reflexion auf die deutsche, insbesondere die NS-Geschichte" als "eine der wesentlichen Kontextbedingungen" für die Debatten um den Nahostkonflikt (19). Zunächst geht es Ullrich um "Lernprozesse", also um die Ausdifferenzierung der verschiedenen linken Positionen zum Nahostkonflikt und um die "Standpunkte im Nahostkonflikt, die auf die eine oder andere Art über den einfachen Gegensatz 'für Israel' oder 'für Palästina' hinausweisen" (21). Der Autor bezeichnet diese beiden Extrempositionen als "Binarismen", zwischen denen sich die diskursive Pendelbewegung abspiele. Neben der langsamen diskursiven Ausdifferenzierung stellt Ullrich eine weitere Form des Lernprozesses dar: die "Konversion". Dabei "handelt es sich um einen radikalen Bruch in der Identifikation, um den Wechsel von der einen Seite auf die andere, zuvor noch gegnerische" (45). Besonders für die 1960er Jahre könnten solche Konversionen in der linken Bewegung beobachtet werden.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs oszillierten die Solidaritätsbekundungen der Linken zwischen "ausgeprägter Israelsympathie" in den 1950er Jahren über ein "antizionistisches Weltbild" zu Beginn der 1990er Jahre bis hin zu einer erneut "proisraelischen Position" seit der Jahrtausendwende (22 f.), die "bis hin zu einer Solidarisierung mit Positionen der israelischen Rechten reichen kann" (23). Diese Pendelbewegung war stets vom jeweils vorherrschenden Erinnerungsdiskurs geprägt, dessen Bezugspunkt die NS-Geschichte darstellt. Die jeweilige Position hatte und hat "für die politische Identität der Betreffenden basal konstitutive Bedeutung" (23). Doch nicht nur das. Auf einer Vorstellung seines Buchs im vergangenen Oktober konstatierte Ullrich, dass alle Zuspitzungen, Standpunkte und Positionierungen im linken Nahostdiskurs ganz allgemein deutsche Identitäten reflektierten. Vor diesem Hintergrund weist er darauf hin, dass es zwischen den nahostpolitischen Diskursen der Linken in Deutschland und Großbritannien gravierende Unterschiede gebe. Hier greift Ullrich vor allem auf die Ergebnisse seiner älteren Publikation aus dem Jahr 2008 zurück.
Der zweite Teil beschäftigt sich mit Antisemitismus im linken Lager. Ullrich konstatiert, dass es bei linken Gruppierungen zwar antisemitische Ressentiments gebe, die aber nicht als spezifisch links bezeichnet werden könnten. Um eine weitere Ausdifferenzierung vorzunehmen, beleuchtet er "die kulturellen Bedingungen der konflikthaften Form des deutschen Erinnerungs- und Nahostdiskurses, den Umgang der DDR mit dem Judentum und [...] Detailaspekte des linken medialen Nahostdiskurses in der BRD" (15). In seinen Ausführungen unterscheidet Ullrich als Motivationen den Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus sowie - als logische Folge daraus - auch den Kampf gegen den Zionismus. Dieser Antizionismus werde jedoch vielfach als Antisemitismus wahrgenommen, gleiches gelte für die "Grauzone" zwischen der Kritik an israelischer Politik und Antisemitismus.
Im dritten Teil nimmt Ullrich "die Diskussion um Nahostpolitik und angeblichen Antisemitismus in der Partei DIE LINKE" unter die Lupe (16). Wie der Autor selbst feststellt, handelt es sich hier aufgrund vieler Befangenheiten um ein hochproblematisches Diskursfeld, auf dem er sich gekonnt bewegt und dabei bemüht ist, die unterschiedlichen linken Positionen und Konfliktlinien präzise darzustellen.
Wer sich künftig mit dem Thema "die Linke und der Nahostkonflikt" auseinandersetzt, kommt an Ullrichs neuem Buch kaum vorbei. Allerdings fallen einige Monita auf. So bleibt er eine schlüssige Antwort auf die Frage schuldig: Was ist links? Eine Definition fehlt, und nur in seiner Beschreibung des parlamentarischen Teils linker Gruppen taucht eine vage Konkretisierung auf. Hier nennt er "die eher linken Parteien DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen" (67). Dagegen blendet Ullrich den linken Flügel der Sozialdemokratie und dessen Positionen im Nahostdiskurs weitgehend aus. Offen bleibt auch die Frage nach der tagespolitischen Relevanz der vorliegenden Untersuchung. Keine der untersuchten linken Gruppierungen war oder ist gegenwärtig in der Lage, tatsächlichen Einfluss auf die deutsche Nahostpolitik auszuüben, sieht man von der Beteiligung der Grünen an der Regierung Schröder mit ihrem Außenminister Joschka Fischer einmal ab. Doch eine Auseinandersetzung mit den Jahren zwischen 1998 und 2005 findet nicht statt. Daher gibt Ullrich zwar einen "Einblick in die verwirrende Welt linker Sekten" [2], aber darüber kommt er nicht hinaus. Am besten lässt sich das Buch wahrscheinlich mit den Worten des Autors verstehen: "Ich hoffe, dass es eine Anregung sein kann, den eigenen Standpunkt etwas zu überdenken und dadurch die Möglichkeit zu haben, sich dieser steten Radikalisierung zu entziehen und einen wahren linken Universalismus anzustreben." [3]
Peter Ullrich bemüht sich auf rund 200 Seiten ehrlich darum, die Binarismen innerhalb des linken Nahostdiskurses aufzubrechen, doch bereits im Impressum seines Buches taucht ein Binarismus ganz eigener Art auf: Die Arbeit wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert und mit Unterstützung der Axel-Springer-Stiftung gedruckt.
Anmerkungen:
[1] Peter Ullrich: Die Linke, Israel und Palästina. Nahostdiskurse in Großbritannien und Deutschland, Berlin 2008.
[2] Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.7.2014: "Verwirrende Einblicke" (Anna Kaminsky).
[3] So Peter Ullrich während einer Vorstellung seines Buchs im November 2013; aufzurufen auf der Homepage des Autors: https://textrecycling.wordpress.com/tag/nahostkonflikt (Minute 32:26, zuletzt aufgerufen am 9.9.2014).
Bettina Sophie Weißgerber