Mechthild Lindemann (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1954. Band I: 1. Januar bis 30. Juni 1954 und Band II: 1. Juli bis 31. Dezember 1954, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, C + 1508 S., ISBN 978-3-11-113998-2, EUR 154,95
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Mit dem jüngst publizierten zweiteiligen Jahresband 1954 der Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland (AAPD) legt das Institut für Zeitgeschichte erneut eine reiche und äußerst gewinnbringende Quellenedition vor. Die insgesamt 470 Dokumente stellen einen üppigen Fundus an ausführlich kommentierten Quellen aus dem außenpolitischen Bürokratiespektrum zur Verfügung, der sowohl für Historiker als auch für den interessierten Laien fruchtbare Anknüpfungspunkte bietet; denn neben politisch brisanten Schriftstücken von internationaler Dimension lassen sich auch kuriose Dokumente darin finden, die zum lustvollen Schmökern und Weiterlesen anregen.
Dabei ist der Jahresband 1954 der AAPD angereichert durch ein umfangreiches Personenregister sowie ein Sachregister, das die schnelle Orientierung ermöglicht. Auch ein Organigramm bietet einen klaren Überblick über die ministeriale Struktur und die personellen Zuständigkeiten im Auswärtigen Amt des Jahres 1954.
Insgesamt steht 1954, das Jahr, in dem "wir wieder wer wurden" (vgl. Dok. 229 und 231), im Spiegel der historischen Dokumente aus dem Auswärtigen Amt erwartungsgemäß im Zeichen der Probleme der Nachkriegszeit. Die Bundesregierung befasste sich auf nationaler, europäischer sowie internationaler Ebene mit unterschiedlichen Problemstellungen: Auf nationaler Ebene betraf dies Fragen der Souveränität sowie die Durchsetzung des deutschen Alleinvertretungsanspruchs gegenüber der DDR. Auch die Eingliederung von Flüchtlingen, die Einbindung von Heimatvertriebenenverbänden in die politische Debatte sowie deren Forderungen stellten das Auswärtige Amt in manchen Bereichen vor Herausforderungen; zumal man verstärkt auf das Bild bedacht war, das man nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Welt nun abgab.
Im europäischen Rahmen spielte die politische Hauptrolle die Regelung der außenpolitischen Beziehungen zu Frankreich (Saarfrage) und der EVG-Prozess. Mit Blick auf die internationale Perspektive und den Kontext der Blockbildung war vor allem die Berliner Vier-Mächte-Konferenz vom 25.01.-18.02.1954 für die Bundesregierung bedeutsam. Sie stellte erstmals seit 1949 wieder den Versuch dar, in alliiertem Rahmen eine Lösung der deutschen Frage herbeizuführen, was unter dem Eindruck von Stalins Tod im Jahr zuvor keine unberechtigte Hoffnung zu sein schien.
Exemplarisch für einige Dokumente im Jahresband 1954, die sich mit dieser Berliner Vier-Mächte-Konferenz befassen, steht hier das Memorandum der Bundesregierung (vgl. Dok. 17 und 18), das eine Woche vor Beginn die Bonner Position gegenüber den drei Westmächten darlegte. Darin wurde deutlich gemacht, dass gesamtdeutsche Wahlen und die schnelle Aufhebung des Besatzungsstatuts von prioritärem Interesse für die Bundesregierung waren. Dennoch war in den USA nach dem Ende der Vier-Mächte-Konferenz offenbar die Ansicht aufgekommen, dass weder die Bundesregierung noch die westdeutsche Bevölkerung leidenschaftlich für eine Wiedervereinigung eintraten und eine Wiedervereinigung, so sie denn erreicht werden würde, in einer Angliederung der DDR an die Bundesrepublik bestehen würde (vgl. Dok. 76).
Interessant am Memorandum der Bundesregierung ist dabei auch der Umgang mit dem Schriftstück, der anhand der Fußnoten sehr gut nachvollzogen werden kann. Denn sowohl Staatssekretär Walter Hallstein als auch insbesondere Bundeskanzler Konrad Adenauer überarbeiteten das Memorandum mehrfach inhaltlich und handschriftlich, was einen ganz persönlichen und unmittelbaren gestalterischen Einfluss zeigt. Erwähnenswert ist auch, dass das im Jahresband veröffentlichte Memorandum aus dem Nachlass von Wilhelm Grewe stammt. Dieser war zu diesem Zeitpunkt Sonderbevollmächtigter für die Berliner Konferenz und 1951 von Adenauer bereits mit den Verhandlungen über den "Deutschlandvertrag" betraut worden. 1955 zeichnete Grewe ebenfalls verantwortlich für den inhaltlichen Entwurf der Hallstein-Doktrin.
Zwar könnte das Beispiel Grewe exemplarisch für die vielen hochrangigen Mitarbeiter mit "brauner Vergangenheit" stehen, die Anfang der 1950er Jahre im Auswärtigen Amt tätig waren; andererseits war Grewe, der bereits Anfang Mai 1933 Parteimitglied der NSDAP geworden sein soll, dezidiert einer jener außenpolitischen "Quereinsteiger" [1], die erst nach 1949 in den Staatsdienst einberufen wurden.
Es wird beim Blick in die Dokumente jedoch deutlich, dass eine Sensibilisierung für den Umgang mit dieser Vergangenheit eingesetzt hatte. Frühere NSDAP-Mitglieder wurden allerdings vor allem dann für untragbar im Amt gehalten, wenn das Ausland darauf hinwies oder das internationale Ansehen Schaden zu nehmen drohte. So zum Beispiel im Falle von Peter Pfeiffer, der neuer westdeutscher Beobachter bei den Vereinten Nationen werden sollte, und dessen Nominierung in den USA auf Widerstand stieß (vgl. Dok. 89). Aber auch in Bonn wollte man sich in höchsten politischen Kreisen nicht in die Nähe von NS-Gedankengut begeben, was durch die Verstimmung von Staatssekretär Hallstein zum Ausdruck kam, die durch die angebliche Beteiligung zweier Bundesminister am Kuratorium einer NS-nahen Stiftung ausgelöst wurde (vgl. Dok. 50).
Nur wenig später setzte sich das Auswärtige Amt auch für die Absage eines Treffens der sogenannten "HIAG" (Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS e. V.) ein, welches Ende September in Nordrhein-Westfalen stattfinden sollte. Das geplante Treffen stieß innerhalb der Bundesregierung auf erhebliche Verstimmung, zumal es am Vorabend der Londoner Neun-Mächte-Konferenz stattfinden sollte, auf der über die Aufhebung des Besatzungsstatuts und einen perspektivischen NATO-Beitritt der Bundesrepublik entschieden werden sollte. Die offizielle Absage des Treffens durch die Veranstalter ließ sich die Bundesregierung einen niedrigen fünfstelligen Betrag kosten. Ob dieser, wie vorgeschlagen, aus "dem Geheimfond" (Dok. 322) der Bundesregierung oder einem anderen Fonds des Landes Nordrhein-Westfalen finanziert wurde, bleibt eine bis dato offene Frage.
Auf europäischer Ebene war für die Bundesregierung im Jahr 1954 die Diskussion über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) bestimmend. Zwar dürften im Hinblick auf die EVG keine drängenden Forschungsdesiderate mehr bestehen, die durch die nun zugänglichen Akten bearbeitet werden könnten, dennoch werden die im Jahresband versammelten, umfangreichen Dokumente mit Sicherheit dabei behilflich sein, die westdeutsche Perspektive auf das Ringen um die EVG und deren schlussendliches Scheitern zu erweitern. Gleiches gilt für den "Fall Otto John", dessen Verschwinden im Auswärtigen Amt zwar erstaunlicherweise lediglich für eine ausführliche Aufzeichnung sorgte, die jedoch inhaltlich umso intensiver ausfiel (vgl. Dok. 251).
Außerhalb der Geschichtswissenschaft könnte für Forscher anderer geisteswissenschaftlicher Disziplinen auch die semantische Ebene der Akten interessant sein. Nicht nur durch die Flure des Auswärtigen Amtes, dessen Architektur Adenauer höchstpersönlich im Hinblick auf Ästhetik und Sicherheitsaspekte rügte (Dok. 207), sondern auch in Sprache und Form wehte recht deutlich der Geist der Fünfziger Jahre durch die edierten Dokumente: Dort werden z.B. den Staatssekretären von Referatsleitern "ergebenst" Entwürfe für Schriftstücke vorgelegt oder diese "zur gefälligen Kenntnis" an das Ministerbüro oder andere übergeordnete Stellen weitergeleitet. Eine sprachwissenschaftliche oder soziologische Analyse einzelner Akten erscheint hier nicht ohne Reiz.
Insgesamt stellt der Jahresband 1954 der AAPD aufschlussreiche und inhaltlich sorgfältig ausgewählte Dokumente zu einem politischen Schlüsseljahr für Europa und die Bundesrepublik dar, dessen Lektüre - wie stets bei den qualitativ hochwertig edierten Bänden der AAPD - ein lohnendes Unterfangen ist.
Anmerkung:
[1] Eckart Conze u.a. (Hgg.): Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München 2010, 466.
Bettina Sophie Weißgerber