Rezension über:

Mechthild Lindemann / Michael Mayer (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1962, München: Oldenbourg 2010, 3 Bde., CV + 2255 S., ISBN 978-3-486-59192-7, EUR 198,00
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Rezension von:
Ulrich Lappenküper
Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Lappenküper: Rezension von: Mechthild Lindemann / Michael Mayer (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1962, München: Oldenbourg 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 7/8 [15.07.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/07/19870.html


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Mechthild Lindemann / Michael Mayer (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1962

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Seit dem Erscheinen des ersten Bandes im Jahre 1993 haben sich die Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland den Ruf eines unverzichtbaren Hilfsmittels zur Erforschung der bundesdeutschen Außenpolitik nach 1949 erworben. Für den auf die Ära Adenauer fokussierten Wissenschaftler betrüblich war dabei die Tatsache, dass das Quellenwerk aufgrund der 30-Jahres-Sperrfrist bei der Freigabe der Akten nach zwei Pilotbänden [1] mit einem Band zum Jahr 1963 einsetzte [2] und die 1997 in Angriff genommene Dokumentation der Vorjahre nach der Vorlage des Jahresbandes 1953 ins Stocken geriet. [3] Es ist daher höchst erfreulich, dass das Team der Bearbeiter die Lücke nun parallel zur Fortschreibung der Edition bis ins Jahr 1980 [4] mit dem Jahresband 1962 ein Stück weiter geschlossen hat. Das aus drei Teilen bestehende mächtige Werk umfasst 502, in chronologischer Folge abgedruckte Dokumente, die ganz überwiegend aus den Beständen des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts stammen. Akten anderer Ressorts wurden abgesehen von diversen Gesprächsprotokollen aus dem Archiv der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus in Rhöndorf nur zur Kommentierung herangezogen.

Die Edition entfaltet ein breites Panorama Bonner Außenpolitik von der Sicherheits- und Europa- über die Afrika- und Lateinamerika- bis zur Außenhandels- und Entwicklungspolitik. Im Mittelpunkt stehen das Scheitern der Bemühungen um eine politische Union der EWG-Staaten, die Kontroversen in der NATO über militärische Notfallplanungen für Berlin und den Strategiewechsel von der "massive retaliation" zur "flexible response" sowie last but by no means least die Kuba-Krise. Eindringlich dokumentiert der Band, dass die außenpolitischen Herausforderungen im Bonner Politikbetrieb wiederholt tiefgreifende Dissonanzen auslösten, und zwar sowohl innerhalb des Auswärtigen Amts als auch zwischen verschiedenen Ressorts.

Schon zu Beginn des Jahres herrschte in den Bonner Entscheidungszentralen eine außenpolitische Krisenstimmung, die zum einen durch die "sehr negativ" bewerteten amerikanisch-sowjetischen Sondierungsgespräche (142), zum anderen durch die Spannungen in der NATO ausgelöst worden war. In einer ressortübergreifenden Besprechung maßgeblicher Politiker und Militärs bestand am 6. März die übereinstimmende Auffassung, dass Europa nur dann eine Überlebenschance habe, wenn der Warschauer Pakt von einem atomaren Erstschlag abgehalten werden könne. Doch die europäische Gemeinschaft schien sich weniger mit der Abwehr äußerer Gefahr denn mit der Lösung innerer Querelen zu beschäftigen. Mitte Januar hatten ihre Bemühungen um Schaffung einer politischen Union wegen französischer Widerstände einen schweren Rückschlag erlitten. Adenauer äußerte sich über die Eigenmächtigkeiten des französischen Staatschefs de Gaulle "verärgert" (69), akzeptierte aber dennoch eine Selbsteinladung des Generals zu einem Zweiertreffen, das in gewisser Hinsicht den Startschuss für jene Entente geben sollte, die ein knappes Jahr später im Elysée-Abkommen völkerrechtliche Gestalt gewann.

Zum Studium des historischen Meetings von Baden-Baden und der weiteren Adenauer-de-Gaulle-Gespräche des Jahres 1962 musste man bisher auf den posthum veröffentlichten Band 4 der Adenauer-Erinnerungen zurückgreifen. [5] Ein Vergleich mit den nun hier abgedruckten Protokollen zeigt, dass die Memoiren die Unterredungen im großen und ganzen zuverlässig wiedergeben, aber manch interessante Passage auslassen: So fehlt etwa in der Wiedergabe des Gesprächs von Baden-Baden der bemerkenswerte Satz Adenauers: "Alles, was Frankreich heute sei, verdanke es der Persönlichkeit von General de Gaulle" (381).

Um die den deutsch-französischen Exklusivkontakten gegenüber misstrauischen Amerikaner zu besänftigen, beteuerte Bonns Regierungschef wenig später im Gespräch mit dem amerikanischen Justizminister Robert Kennedy, es gehe ihm vornehmlich darum, "de Gaulle wieder näher an den Westen heran[zu]bringen" (473). Doch dies war allenfalls die halbe Wahrheit. Je unnachgiebiger die USA auf ihre Vormachtrolle im westlichen Bündnis pochten und obendrein die Verständigung mit der Sowjetunion suchten, desto mehr fühlte sich der Kanzler an die Seite Frankreichs gedrängt.

Als die Amerikaner dann im April 1962 mit dem Plan einer Zugangsbehörde für West-Berlin den Eindruck erweckten, ihre Deutschlandpolitik "in Richtung auf die Gleichstellung der beiden deutschen Regierungen" (750) abändern zu wollen, und der Entwurf neuer NATO-Richtlinien über den Einsatz von Atomwaffen wie eine "Blanko-Vollmacht" für eine amerikanische Hegemonie wirkte (774), gewann Adenauers Misstrauen zusätzliche Nahrung. Wie ein Lichtblick in der Düsternis der deutschen Außenpolitik wirkte da die Tatsache, dass de Gaulle ihn kurz darauf zu einem Besuch nach Paris einlud und schon jetzt seinen Gegenbesuch für den September ankündigte. Da US-Präsident John F. Kennedy mit einer noch "rücksichtsloseren Ausübung seiner Führungsrolle" in der westlichen Allianz (962) reagierte, beeilte sich Adenauer, in Washington zu versichern, dass er nicht beabsichtige, mit de Gaulle Europa zur "dritte[n] Kraft" aufzubauen (971). Genau diese Konzeption aber verfolgte der General, und Adenauer wusste das aus den Berichten der Botschaft Paris.

Besonderen, ja zentralen Stellenwert besaß für sie die Durchsetzung ihres Postulats auf nukleare Teilhabe, dem sich die USA indes zunehmend energischer widersetzten. "Nicht jede Regierung sei geistig gesund" und dürfe deshalb auch nicht in den Besitz von Kernwaffen gelangen, hörte Außenminister Schröder seinen amerikanischen Kollegen Rusk mahnen (1153).

Adenauer schätzte die außenpolitische Lage inzwischen so bedrohlich ein, dass er nun nicht nur die Kontakte zu de Gaulle intensivierte, sondern jetzt auch wieder auf die seit 1958 wiederholt als Rückfallposition angedachte Option deutsch-sowjetischer Direktverhandlungen zurückgriff. Schon Anfang des Jahres hatte der Botschafter in Moskau, Kroll, ein persönliches Gespräch zwischen Adenauer und Chruschtschow als "letzte[n] Ausweg" zur Rettung Berlins, ja zur Verhinderung eines "atomaren Krieg[es] angeregt (62). Wenngleich Schröder diesen Vorschlag als "ein ungeheures 'appeasement'" verwarf (338) und der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Bundestag, von Brentano, Krolls Abberufung verlangte, griff Adenauer diesen Gedanken im Frühsommer 1962 auf. Am 6. Juni unterbreitete er dem sowjetischen Botschafter Smirnow den Wunsch eines zehnjährigen "Waffenstillstand[s]" (1041) und verband damit die Hoffnung auf "wirklich normale Beziehungen zur Sowjetunion" (1044).

Nur einen Tag nach der negativen Rückantwort begann seine historische Visite in Paris, die eine erste Wegmarke in Richtung auf das Freundschaftsabkommen vom Januar 1963 setzen sollte. Kanzler und General verständigten sich auf den Ausbau der bilateralen Beziehungen zur "politischen Union" (1235), wobei de Gaulle nachdrücklich betonte, dass demnächst "auch die Verteidigung Europas im eigentlichsten Sinne geprüft werden müsse" (1217). Anlässlich seines triumphalen Gegenbesuchs im September regte der Kanzler ein geheimes "Gentlemen's agreement" (1497) an, das nicht in einem Vertrag, sondern in einem Protokoll oder einem Memorandum fixiert werden sollte. Dies alles war der Forschung bereits aus den Erinnerungen Adenauers bekannt. Nicht abgedruckt ist dort aber eine lange Passage über seinen und de Gaulles Argwohn gegenüber der Bereitschaft der USA, Nuklearwaffen "in dem für Europa richtigen Augenblick" einzusetzen (1505).

Zur Beschwichtigung amerikanischer Gesprächspartner operierte Adenauer nun vielfach mit dem Argument, Bonn müsse die Beziehungen zu Paris intensivieren, weil die "Verklammerung [...] den besten Schutz gegen die Sowjetunion darstelle" (1230; ähnlich 1236). Mahnend erinnerte er an die Tradition der französisch-russischen Allianz, an den französischen Flottenbesuch in Kronstadt 1891 (1572, 1591) und den französisch-sowjetischen Vertrag von 1944 (1517, 1591). Beruhigen konnte er die Verbündeten damit nicht - im Gegenteil. Nach der Übergabe eines französischen Memorandums zur Umsetzung des von Adenauer und de Gaulle skizzierten Kooperationsprogramms berichtete Botschafter Klaiber aus Rom von "ernstliche[r] Unruhe" in der italienischen Regierung (1613). Wenn die Arbeiten am deutschen Antwortmemorandum in den folgenden Wochen nur mühsam vorwärts gingen, hing dies aber nicht nur mit dem in den westlichen Kapitalen ausbrechenden Befürchtungen zusammen, sondern auch mit den keineswegs identischen Vorstellungen in Bonn und Paris wie mit Meinungsverschiedenheiten zwischen den zuständigen Ressorts in Bonn, mit der die Bundesregierung erschütternden "Spiegel-Affäre" und nicht zuletzt mit der weltpolitischen Krise auf Kuba.

Schon am 10. September hatte Adenauer gegenüber US-Botschafter Dowling von einer "in Kuba drohende[n] Gefahr" gesprochen (1520). Nach der Entdeckung der sowjetischen Raketenstellungen empfahl er eine "Bombardierung" der Basen und die "Invasion" der Insel (1803). Nachdem den USA und Europa das drohende Armageddon erspart geblieben war, verschärfte Kennedy sehr zum Unwillen Adenauers die innerwestliche Non-Proliferationspolitik. Schon der Einsatz taktischer Kernwaffen könne "das Ende Europas, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion" bedeuten, insistierte er bei einem Gespräch mit Adenauer am 14. November. Der Kanzler sah das dezidiert anders und glaubte nicht, "daß die Verwendung kleiner nuklearer Waffen zum nuklearen Krieg führen müsse" (1915 und 1916). Auch deshalb sollte er sich auf seiner Suche nach atomarer Teilhabe nach dem Jahreswechsel vollends de Gaulle zuwenden.

Neben dieser Fülle faszinierender Einblicke in die "Große Politik" wirft der Band auch neues Licht auf weniger beachtete Stränge der Bonner Außenpolitik. Vom Zweiten Vatikanischen Konzil in der Auffassung bestärkt, dass die katholische Kirche sich "in einer starken Defensivstellung gegen alle außenstehenden christlichen Gemeinschaften einigelt" (762), befürchtete Botschafter van Scherpenberg ein Wiederaufleben konfessioneller Spannungen in der Bundesrepublik mit "unabsehbare[n] Folgen für die politische Zukunft" des Landes (1466). Gerade prophetische Fähigkeiten stellte Staatssekretär Carstens unter Beweis, als er im Juni 1962 die Erweiterung der EWG auf 14 Mitglieder prognostizierte und zur Bewältigung der drohenden Schwerfälligkeit eine engere Verbindung der "großen Vier" anregte - Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien (1120). Höchst erstaunlich mutet das Urteil des Botschafters in Madrid, Freiherr von Welck, an, der die Assoziierung Franco-Spaniens mit der EWG dezidiert nicht von der Geltung der Grundsätze des westlichen Parlamentarismus abhängig machen wollte, weil sie offenbar nicht "im wahren Interessen des spanischen Volkes" lägen (855).

Tief blicken lässt der Band vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um die Vergangenheitsbewältigung des Auswärtigen Amts im Zuge der umstrittenen Publikation "Das Amt" [6]: zum einen und ganz allgemein wegen der schwankenden Haltung des Amts zwischen Macht und Moral in der Debatte über die Wiedergutmachung an die im Ausland lebenden Opfer des Nationalsozialismus, zum anderen und sehr konkret mit Blick auf den Rat des Botschafters Junker aus Buenos Aires, bei der Entscheidung über die Einleitung eines Auslieferungsverfahrens gegen den früheren Kommandeur des Ghettos in Przemysil, Josef Schwammberger, dessen Leistungen "als Spezialist bei dem Bau des wichtigen Kabelnetzes" in der Provinz Buenos Aires zu berücksichtigen (2061). So dauerte es fast dreißig Jahre, bis Schwammberger einer Strafe wegen 45-fachen Mordes und der Beihilfe zum Mord in 3000 Fällen zugeführt werden konnte.

Fazit: Eine unverzichtbare Lektüre nicht nur für jede Beschäftigung mit den internationalen Beziehungen des Jahres 1962; ein Band, der dank der beeindruckenden Kärrnerarbeit von Mechthild Lindemann und Michael Mayer den guten Ruf der Gesamtedition nachdrücklich bestätigt.


Anmerkungen:

[1] Frank-Lothar Kroll / Manfred Nebelin (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1: Adenauer und die Hohen Kommissare 1949-1951; Bd. 2: Adenauer und die Hohen Kommissare 1952, München/Wien 1989.

[2] Mechthild Lindemann / Ilse Dorothee Pautsch (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1963, München 1994.

[3] Daniel Kosthorst / Michael F. Feldkamp (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1949/50, München 1997; Matthias Jaroch (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1951, München 1999; Martin Koopmann / Joachim Wintzer (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1952, München 2000; Matthias Jaroch / Mechthild Lindemann (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1953, München 2001.

[4] Vgl. Jost Dülffer: Rezension von Tim Geiger / Amit Das Gupta / Tim Szatkowski (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1980, München: Oldenbourg 2011, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 5; URL: http://www.sehepunkte.de/2011/05/19779.html

[5] Konrad Adenauer: Erinnerungen 1959-1963. Fragmente, Stuttgart 1968.

[6] Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010. Vgl. hierzu die beiden Rezensionen im FORUM der sehepunkte 11 (2011), Nr. 4; URL: http://www.sehepunkte.de/2011/04/

Ulrich Lappenküper