Marek Tamm / Linda Kaljundi / Carsten Selch Jensen (eds.): Crusading and Chronicle Writing on the Medieval Baltic Frontier. A Companion to the Chronicle of Henry of Livonia, Aldershot: Ashgate 2011, XXXVII + 484 S., 10 Kt., ISBN 978-0-7546-6627-1, GBP 75,00
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Anti Selart: Livonia, Rus' and the Baltic Crusades in the Thirteenth Century, Leiden / Boston: Brill 2015
Krzysztof Zajas: Absent Culture. The Case of Polish Livonia, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2013
Meike Wulf: Shadowlands. Memory and History in Post-Soviet Estonia, New York / Oxford: Berghahn Books 2016
Das Cronicon Lyvoniae, ein Werk Heinrichs von Lettland, das in vier Bänden die Geschichte Livlands in den Jahren 1180-1227 beschreibt, ist genauso wie der Autor selbst seit über 150 Jahren Gegenstand intensiver interdisziplinärer Forschungen, die in unterschiedlichen Forschungszentren betrieben werden. Ohne jeden Zweifel führte die Konstituierung der baltischen Staaten - insbesondere Lettlands und Estlands - nach dem Zerfall der Sowjetunion zur Intensivierung der Forschungen über die mittelalterliche Geschichte der Gebiete, die heute größtenteils innerhalb der Grenzen der genannten Länder liegen. Dies gilt auch für die vorgenannte Chronik, die eine der wichtigsten Quellen für die mittelalterliche Geschichte des Ostseeraums darstellt. Gegen Ende des vergangenen Jahrzehnts fassten estnische und dänische Mediävisten die bisherigen Studien über die Chronik Heinrichs von Lettland zusammen: Ergebnis ist der vorliegende Sammelband. Die Publikation ist eine Nachlese der Konferenz "Crusading and Chronicle Writing on the Medieval Baltic Frontier: The Chronicle of Henry of Livonia", die vom 22.-24.05.2008 gemeinsam vom Zentrum für mittelalterliche Studien an der Universität Tallinn (Centre for Medieval Studies), dem Nordischen Zentrum für mittelalterliche Studien (Nordic Centre for Medieval Studies) und dem Institut für Kirchengeschichte an der Universität Kopenhagen (Department of Church History) in Tallinn organisiert wurde.
Die Beiträge in diesem Band wurden in drei Sektionen aufgeteilt: 1. Representations, 2. Practices und 3. Appropriations. Jede von ihnen wird durch ein Vorwort von James A. Brundage eingeleitet, dem langjährigen Forscher zur Problematik der Kreuzzüge und Übersetzer der Chronik Heinrichs von Lettland ins Englische. Brundage nennt im Vorwort das Haupthindernis bei den Forschungen zur Chronik und ihrem Autor: Alle Informationen über Autor und Werk stammen ausschließlich aus dem Text der Chronik selbst. Brundage schildert die Biografie Heinrichs von Lettland und weist dabei auf seine Abstammung und das Milieu der Gemeinschaft der nach der Augustinerregel lebenden Regularkanoniker in Segeberg hin, die ihn sowohl geistig als auch intellektuell beeinflussten. Bei der Erörterung der Beteiligung Heinrichs von Lettland an der Christianisierung Livlands knüpft er an die Beteiligung der Geistlichen an den Kämpfen mit der lokalen Bevölkerung aus der Perspektive der Bestimmungen des kanonischen Rechts an.
Der erste Teil des Bandes, Representations, beinhaltet Beiträge über unterschiedliche ideologische Inhalte aus der Chronik Heinrichs von Lettland und über die Techniken, die der Chronist bei ihrer Darstellung anwandte. Er wird durch eine Studie Christopher Tyermans über die Ideologie der Kreuzzüge in der Chronik eröffnet, die sich an manchen Stellen auf die historiografischen Narrationen über die Kreuzzüge in anderen Gebieten bezieht (z.B. die Chroniken Wilhelms von Tyrus). Jaan Undusk beschreibt sowohl die Quellen der Entlehnungen bei Heinrich von Lettland, wobei er sowohl den Vorrang der Vulgata und des Breviers unterstreicht (gefolgt von: lateinischen Texten aus dem damaligen scholastischen Kanon, Zitaten der Kirchenväter, Passagen aus zeitgenössischen Urkunden oder auch Entlehnungen aus der Sprache der lokalen heidnischen Bevölkerung), als auch die Art und Weise, wie diese in der Narration eingesetzt wurden. Jüri Kivimäe zeigt dagegen anhand der Quellen-Selbstdarstellung des Chronisten, wie die einzelnen baltischen und finno-ugrischen Völker (Liven, Esten, Lettgallen) in der Chronik geschildert wurden. Mit seinen Befunden korrespondiert die Studie von Torben Kjersgaard Nielsen. Der Autor nimmt die Forschungen von Jacques Le Goff und den französischen Strukturalisten (C. Lévi-Strauss) als Ausgangspunkt und setzt sich mit der Darstellungsweise der Umwelt durch den Chronisten auseinander. Er beschreibt, wie sich dieser dabei auf die Wälder und ihre Bedeutung für die lokale Bevölkerung (Refugium, Sakralfunktionen etc.) konzentriert. Heinrich von Lettland beschreibt sich selbst und schildert sein Wirken als Pfarrer, Kaplan des Rigaer Bischofs Albert (1199-1229) und Sprachvermittler (interpres). Der dritten Rolle widmet Alan V. Murray seine Studie, indem er auf andere Bedeutungen des Begriffs interpres (derjenige, der erläutert) hinweist. Dies bildet für ihn den Ausgangspunkt für die Analyse der linguistischen Aspekte der Missionen in Livland anhand der Chronik Heinrichs von Lettland. Dabei untersucht er sowohl die sprachlichen Fähigkeiten des Autors, als auch die Mittel, mit deren Hilfe die Sprachbarrieren durch die entstehende Kirchenorganisation in den missionierten Gebieten Livlands überwunden wurden. Alan V. Murrays Befunde werden durch den Text von Carsten Selch Jensen ergänzt, welcher Predigten, also der in der mittelalterlichen mündlichen Kultur dominierenden Übertragungsform ideologischer Inhalte, gewidmet ist. Gegenstand seiner Analyse sind die rhetorischen Mittel in den Predigten, die in der Chronik angeführt wurden, ihre Lehrinhalte wie auch die Geistlichen selbst, die Homilien vor der bekehrten Bevölkerung hielten.
Die Studien im zweiten Teil des Bandes, der den Titel Practices trägt, schildern die enorme Bedeutung der Chronik als Forschungsquelle für unterschiedliche Aspekte der mittelalterlichen Geschichte Livlands. Die dänische Mediävistin Iben Fonnesberg-Schmidt macht die Passage der Chronik über Bischof Albert, der 1201 die römische Kurie um Unterstützung bei der Christianisierung Livlands ersuchte, zur Grundlage ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema der Beziehungen zwischen der neu entstehenden Kirchenorganisation und dem Papsttum. Die päpstlichen Schriften waren von großer Bedeutung für die Anwerbung der Kreuzritter und die Autorisierung der Kampagnen in Livland. Um diese - so Heinrich von Lettland - bemühte sich mehrmals Bischof Albert, und zwar mit Erfolg. Den in der Chronik erwähnten militärischen Aspekten der Mission in Livland sind die Beiträge von Kurt Villads Jensen und Ain Mäesalu gewidmet. Als Augenzeuge der geführten Kampagnen gegen die Heiden nahm Heinrich von Lettland in seine Chronik zahlreiche Informationen über die Kriegsführung (Bewaffnung und angewandte Taktiken) zu Beginn des 13. Jahrhunderts auf. Laut A. Mäesalu erweist sich der Chronist sogar als Experte auf diesem Gebiet, insbesondere dann, wenn er mit großer Kennerschaft die Termini verwendet, die Fernwaffen (Wurfgeschütze, Ballisten), Wurfwaffen (Bliden, Katapulte), Munition (iaculum, telum) oder auch das Personal bezeichneten, das sie bediente (ballistarii). Mäesalu analysiert die Verwendung der Waffen bei der Verteidigung, auf Gewässern und während Belagerungen und weist auf die Übernahme und den Einsatz derartiger Waffen (insbesondere Wurfgeschütze) durch die Esten hin, indem er sich auf zahlreiche archäologische Funde stützt. Der Nutzung des Inhalts der Chronik sowohl für archäologische Forschungen, als auch für die Verifizierung der Aussagen Heinrichs von Lettland im Lichte dieser Untersuchungen widmen sich Valter Lang und Heiki Valk. Die vom Chronisten gelieferten Informationen werden häufiger beispielsweise durch den Fund von Bolzen an Orten der beschriebenen bewaffneten Auseinandersetzungen bestätigt, obwohl die Autoren unterstreichen, dass sowohl die schriftlichen als auch die archäologischen Quellen fragmentarisch sind und dass letztere nicht selten Lücken in der Erzählung Heinrichs von Lettland schließen. Auf die archäologischen Untersuchungen bezieht sich auch Marika Mägi, die auf ihrer Grundlage das negative Bild Ösels und seiner Bewohner revidiert, welches von dem Chronisten skizziert wurde. Heinrich von Lettland zufolge bildeten die Einwohner der Insel eine schlecht organisierte Gemeinschaft ohne zentrale Verwaltung, die ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage räuberischen Feldzügen in benachbarte Gebiete verdankte. M. Mägi zieht völlig andere Schlussfolgerungen - die Bewohner der Insel Ösel stellten im Lichte ihrer Befunde eine gut organisierte Gemeinschaft dar, die sich der politischen Ereignisse in ihrem Umfeld bewusst war und mit dem dänischen König zu verhandeln suchte - dies jedoch ohne Erfolg. Ein derartiges Bild der Insel Ösel resultierte auch aus der Position Heinrichs von Lettlands, der sich an Kreuzzügen beteiligte und für den wahren christlichen Glauben kämpfte.
Den letzten Teil des Bandes - Appropriations - bilden Beiträge über die Wahrnehmung der Chronik und ihren Einfluss auf die spätere Geschichtsschreibung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Anti Selart beruft sich auf die Untersuchungen Leonid Arbusows jun. und unterstreicht die Tatsache, dass nur eine mittelalterliche Kopie der Chronik existiert, die aus dem Ende des 13. Jahrhunderts stammt und als Codex Zamoscianus in der Warschauer Nationalbibliothek aufbewahrt wird. Die Wahrnehmung des in der Chronik gezeichneten Bildes von Livland wurde von politischen Veränderungen in Livland beeinflusst. Die Richtungen der Erzählung bei der Schaffung des Bildes der Vergangenheit gab seit der Mitte des 13. Jahrhunderts der Deutsche Orden vor, der in Livland mit den Rigaer Erzbischöfen wetteiferte. Das Interesse an der Chronik stieg allmählich in der Neuzeit. Zum Verleger des Werkes wurde 1740 Johann Daniel Gruber. Stefan Donecker beschreibt die ältesten erhalten gebliebenen Kopien (Codex Zamosciansus, Codex Oxenstierna (Hanoveranus)) und das Interesse an ihnen (u. a. anhand von Marginalglossen) in der Neuzeit auf dem Gebiet Deutschlands und Livlands, indem er das Schicksal der erhalten gebliebenen Handschriften bis zur Veröffentlichung der Gruber-Ausgabe verfolgt. Die gleichen Themen greift in ihrem Artikel Tiina Kala auf, indem sie die erhalten gebliebenen Handschriften mit dem Text der Chronik ausführlich erörtert und die bisherigen Ausgaben und Übersetzungen des Werkes präsentiert: von der bereits erwähnten Gruber-Ausgabe aus dem Jahre 1740 bis hin zur finnischen Übersetzung von Maijastina Kahlos und Raija Sarasti-Wilenius aus dem Jahre 2003. Den Band beschließt ein Text von Linda Kaljundi über die Bedeutung und Rolle Henryk Łotyszs und seiner Chronik für die Geschichte der baltischen Länder und für den Prozess der Herauskristallisierung nationaler Identitäten seit der Aufklärung bis zur Gegenwart.
Mit diesem Werk bekommen Forscher zur mittelalterlichen Geschichte der östlichen Ostseeküste eine besonders wertvolle Publikation an die Hand, nämlich eine Zusammenfassung langjähriger interdisziplinärer Untersuchungen zu dieser grundlegenden Quelle für die Geschichte der Region und des bisherigen Schaffens der nationalen Geschichtsschreibungen sowie eine systematische Darstellung vielseitiger Forschungen, die von Vertretern unterschiedlicher Disziplinen geleistet werden. Ausgewählte Studien aus dem erörterten Band bilden zweifelsohne einen hervorragenden Kommentar zu Ausgaben und Übersetzungen der Chronik des Heinrich von Lettland.
Radoslaw Biskup