Julia Weber: Meißener Porzellane mit Dekoren nach ostasiatischen Vorbildern. Stiftung Ernst Schneider in Schloss Lustheim. Herausgegeben von Renate Eikelmann, München: Hirmer 2013, 2 Bde., 700 S., 720 Farb-, 850 Markenabb., ISBN 978-3-7774-9091-5, EUR 98,00
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Zu den bedeutendsten Sammlungen Meißener Porzellane des 18. Jahrhunderts in Deutschland gehört die von dem Düsseldorfer Industriellen Ernst Schneider zusammengetragene und 1971 dem bayrischen Staat übereignete, über 1800 Objekte umfassende Kollektion, die seither in Schloss Lustheim als Außenstelle des Bayrischen Nationalmuseums dem Publikum zugänglich ist. Seit der Schenkung bestand der Wunsch nach einer wissenschaftlichen Aufarbeitung des Bestandes, jedoch fanden Katalogprojekte in der Vergangenheit keinen Abschluss, in Aussicht gestellte Publikationen unterblieben.
In einem erneuten Anlauf, endlich dem Rang der Sammlung angemessene Kataloge zu publizieren, konnte die Ceramica-Stiftung in Basel als Partnerin gewonnen werden. Sie finanzierte die Produktion des nun vorliegenden zweibändigen Werkes von Julia Weber. Die Autorin übernahm die Aufgabe, den umfangreichsten Komplex innerhalb der Sammlung Schneider zu katalogisieren: die Meißener Porzellane mit Dekoren nach ostasiatischen Vorbildern.
Der erste Band umfasst eine konzise und prägnante Analyse über das Verhältnis der Meißener Produkte und ihrer Vorbilder aus China und Japan. Ausgehend von der Nacherfindung des Materials durch Johann Friedrich Böttger entwickelt die Autorin ihre Fragestellung, inwiefern das sächsische Porzellan in den Augen der Zeitgenossen eher ein Substitut für die ostasiatischen Importe darstellte oder dadurch eine Vorrangstellung Europas gegenüber Asien ausgedrückt wurde. Die überzeugende Qualität der Arbeit zeigt sich bereits an ihrem Beginn: Die Erfindungsgeschichte des europäischen Porzellans ist Gegenstand zahlreicher Erzählungen und wissenschaftlicher Bearbeitungen. Dabei wurde zumeist auf die Erfindungsleistung fokussiert sowie die Frage der alleinigen Urheberschaft Böttgers diskutiert. Weber hingegen lenkt den Blick über ein längeres Zitat Böttgers - in dem dieser den Vorzug 'seines' Materials beansprucht, da dieses nun nach europäischem Geschmack geformt werden könnte - auf den für ihre Arbeit interessanten Aspekt und vermeidet eine langatmige Wiederholung bekannter Fakten.
Anhand von zwei Hauptthemen entwickelt Weber ihre Analyse: der Bau- und Ausstattungsgeschichte des Japanischen Palais in Dresden und der sogenannten Hoym-Lemaire-Affäre. Das Japanische (vormals als Holländisch bezeichnete) Palais entwickelte August der Starke ab 1717 als Gesamtkunstwerk zur Aufnahme seiner in Qualität und Quantität einmaligen Sammlung asiatischer Porzellane und exotischer Raritäten. Zunächst sollten die aus der eigenen, seit 1710 in Meißen eingerichteten Manufaktur stammenden Porzellane die Bestände chinesischer und japanischer Provenienz ergänzen. Im Verlauf der Arbeiten, mit zunehmender Sicherheit der Fertigungstechnologie und daraus resultierendem, wachsendem künstlerischen Selbstbewusstsein erfuhren die Pläne 1730 entscheidende Änderungen. Schließlich sollten die Porzellane aus eigener Manufaktur die fremdländischen übertreffen, sodass eine räumliche Trennung vollzogen wurde: Das Erdgeschoss blieb dem asiatischen Porzellan vorbehalten, während die architekturhierarchisch übergeordnete Beletage zur Präsentationsebene der Meißener Produkte bestimmt wurde. Diese Entwicklung zeichnet die Autorin detailliert nach, um darauf aufbauend eine Interpretation des Japanischen Palais als Ausdruck einer angemaßten Überlegenheit Europas über das konkurrierende Asien vorzuschlagen. Das Porzellan wird in diesem Zusammenhang als symbolhaftes Zeichen verstanden. Diese Lesart des vierflügeligen Baus wird besonders im Giebelrelief des stadtseitigen Mittelpavillons deutlich. Darin weist eine Saxonia die von einer fernöstlichen Delegation dargebotenen asiatischen Porzellane zurück und bevorzugt hingegen die einheimischen Stücke der sächsischen Vertreter. Ausgehend von dieser Deutung rollt die Autorin in einem imaginären Rundgang durch das nie vollendete und mit der Umnutzung des Gebäudes ab 1782 als Museum endgültig verlorene Projekt die Ausstattung des Palais als inszenierten Triumph des Meißener Porzellans auf. Ihre Rekonstruktion stützt sich auf die überlieferten Entwürfe des verantwortlichen Architekten Zacharias Longuelune, die sie mit zeitgenössischen Beschreibungen kombiniert und unter Bezugnahme auf französische Vorbilder sowie das Hofzeremoniell kontextualisiert.
Bislang fand sich in der Forschung keine schlüssige Interpretation für die 1730 vorgenommenen Änderungen der Ausstattungspläne des Japanischen Palais. Hier verweist die Autorin auf die sogenannte Hoym-Lemaire-Affäre. Der aus einer Pariser Kaufmannsfamilie stammende Rodolphe Lemaire und der sächsische Kabinettsminister und Manufakturdirektor Carl Heinrich von Hoym hatten entgegen den kurfürstlich-königlichen Vorschriften versucht, in Meißen exakt nach japanischen Kakiemon-Vorbildern hergestellte Porzellane in Frankreich als asiatische Originale zu vertreiben. Da das Kakiemon-Porzellan besonders hoch in der Gunst der Käufer stand, versprach man sich ein lukratives Geschäft. August der Starke jedoch wollte das in seinem Machtbereich produzierte Porzellan als sächsisches Produkt in Europa propagiert wissen und unterband das Treiben von Hoym und Lemaire. Die Autorin weist dabei durch zeitgenössische Quellen nach, dass die in Paris erfolgreich verkauften Meißener Kopien Anlass zur Diskussion boten, inwiefern die sächsischen Produkte den japanischen Vorbildern qualitativ ebenbürtig seien. Auch wenn dabei kein Konsens gefunden wurde, so sprachen sich viele Stimmen für eine Gleichrangigkeit des Meissener Porzellans aus. Diesen Aspekt betrachtet Weber als ausschlaggebend, die Gestaltung des Japanischen Palais zu revidieren und grundlegend zu ändern. Die Hoym-Lemaire-Affäre nicht nur als historischen 'Wirtschaftskrimi' zu betrachten, sondern aus ihr direkte Auswirkungen auf das kurfürstlich-königliche Bauvorhaben abzuleiten, darf als eine der wesentlichen Erkenntnisse der Arbeit gewertet werden.
Als Anhang hat die Autorin eine Auswahl wichtiger Quellen angefügt: Neben einem französischen Memorandum zum Handel mit Meißener Porzellan in Paris (um 1730/31), Auszügen aus mehreren Nachlassinventaren französischer Aristokraten mit Angaben zu deren Besitz an asiatischen, sächsischen und französischen Porzellanen, einem Teil des Reiseberichts von Jeremiah Milles von 1736 mit der Beschreibung des Japanischen Palais und einer Reihe von Brennberichten der Meißener Manufaktur hat die Autorin Inventar- und Lieferlisten ediert, die Porzellane mit den dem sächsischen Hof vorbehaltenen Dekoren "Gelber Löwe" und "Roter Drachen" aufführen. Der Quellenanhang rundet Webers profunde Analyse hervorragend ab und bietet das Material zu weiteren Forschungen. Des Weiteren finden sich im Anhang die Marken und Beizeichen sämtlicher im Katalog aufgeführter Stücke fotografisch wiedergegeben.
Im zweiten Band folgt der Katalog der insgesamt 483 Porzellane, die in fünf Abteilungen nach Dekorgattungen behandelt werden: unterglasurblaue Dekore, Imari-Dekore, Kakiemon-Dekore, chinesische Dekore der Farbfamilien sowie sogenannte "indianische" Dekore. Letztere waren in freier Anlehnung an ostasiatische Vorbilder entstanden, ohne konkrete Vorlagen zu kopieren. Eingangs eines jeden Kapitels erläutert Weber die Genese und Bedeutung der jeweiligen Dekorart. Daran schließen sich die Katalogeinträge an, die nach einheitlichem Schema vorgenommen worden sind. Den konkreten Objektangaben folgen eine kurze, präzise Beschreibung, ein der Relevanz des jeweiligen Stückes angemessener Kommentar, abgerundet durch Literaturangaben. In den Kommentaren finden sich oftmals hoch interessante Angaben zu wirtschaftlichen Aspekten wie Preisgestaltung, Produktionsbedingungen und Nachfrage. Die Abbildungen der Objekte sind von hoher Qualität, welche die Materialität sowie die Farbgebung gut zur Geltung bringen.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Weber eine außerordentliche Leistung vollbracht hat: Einerseits ist es ihr im ersten Band gelungen, dem wissenschaftlich stark bearbeiteten Meissener Porzellan des 18. Jahrhunderts einen neuen, wesentlichen Aspekt hinzuzufügen. Dadurch ist das Verständnis für die Funktion wie Rezeption des Porzellans in dieser Epoche vertieft worden. Die Vorgehensweise der Autorin, sich von dem in der Forschung oftmals zu engen Blick allein auf die Leistungen Meißens zu lösen zugunsten einer auch interdisziplinären Analyse, darf als unbedingt vorbildhaft empfohlen werden. Andererseits beweist Weber mit dem Katalogband ihre Fähigkeit, sich präzise und kenntnisreich mit den konkreten Objekten auseinanderzusetzen. Dass es ihr gelingt, in den Kommentaren eine Fülle aufschlussreicher Einzelaspekte unterzubringen, verdient besondere Beachtung. Dieses zweibändige Werk über die Meissener Porzellane mit Dekoren nach ostasiatischen Vorbildern ist als würdige, dem Rang der Sammlung Schneider angemessene Bearbeitung und als ein neues Standardwerk zu bezeichnen. Darüber hinaus setzt die Autorin einen neuen Maßstab für die Erarbeitung eines Bestandskatalogs, dem eine reiche Nachfolge zu wünschen ist.
Christian Lechelt