Carlos Steel / John Marenbon / Werner Verbeke (eds.): Paganism in the Middle Ages. Threat and Fascination (= Mediaevalia Lovaniensia. Series I; Studia XLIII), Leuven: Leuven University Press 2012, XIII + 250 S., ISBN 978-90-5867-933-8, EUR 59,50
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Es ist seit langem bekannt, dass das abendländische Christentum das Heidentum nicht einfach ausgerottet, sondern auch manches Heidnische in sich integriert hat. Meist wird das unter dem Schlagwort "Synkretismus" verortet. Aber auch der Prozess der Christianisierung war insgesamt weit langwieriger, als es der von den christlichen Schriften her geprägte Eindruck oft nahelegt. Hier einmal tiefer zu bohren und, mit glücklichem Titel, "Bedrohung und Faszination" des Heidentums im Mittelalter an einzelnen Aspekten näher zu untersuchen, ist daher eine gute Idee der Herausgeber gewesen, auch wenn die Beiträge nicht durchweg überzeugen können. Von vornherein sollte dabei die Vielfalt der Betrachtungsweisen, sollten überlebende heidnische Praktiken ebenso Berücksichtigung finden wie die Christianisierung, die christlichen Strategien gegen das Heidentum, die Begegnungen mit heidnischen Kulten oder die Ehrenrettung heidnischer Philosophen, wie es in der Einleitung heißt. Diese Vielfalt wirkt allerdings auch auf Natur und Inhalt der Beiträge zurück, die sich nur schwer zu einer Sammelbesprechung verbinden lassen.
Den Anfang macht Ludo Milis ("The Spooky Heritage of Ancient Paganisms") mit einem weit gespannten, zwangsläufig zuweilen oberflächlichen Überblick über das Fortleben heidnischer Objekte (Amulette, Zauber), Rituale (Gebete und Flüche) und Vorstellungen (Astrologie): Trotz Verschwindens des Polytheismus gebe es geradezu eine "omnipresence of pagan reminiscences", deren heidnischer Ursprung oft allerdings nicht mehr bewusst war. Alles rationale Denken, so Milis, habe das Heidentum letztlich nicht unterdrücken können. Milis wiederholt noch einmal seine These, das Heidentum habe "die Lücken gefüllt", welche die "entfernten Versprechungen" des Christentums nicht einlösen konnten. Das ist nicht zwingend falsch, doch wird man die eigentlichen Gründe auch in der sehr ähnlichen (frühmittelalterlichen) Denkweise von Christen und Heiden suchen und nicht nur Fortleben, sondern auch Umdeutung und Integration in die Theologie im Einzelnen analysieren müssen.
Die drei folgenden Beiträge gehen das Thema von philosophiegeschichtlicher Seite her an. Carlos Steel ("De-paganizing Philosophy") repräsentiert diesen verengten Zugriff, wenn er gleich eingangs feststellt, das Christentum habe ursprünglich nichts mit Philosophie zu tun gehabt, Platon sei hingegen eng mit dem Heidentum verknüpft gewesen. Auch das ist sicher nicht falsch, doch verkörpert auch Platon eher bestimmte heidnische Weltdeutungen. Die Kirchenväter zeigten aber eine unverkennbare Sympathie für den Neoplatonismus, der seinerseits das Christentum verachtete, und integrierten ihn in den Glauben (oder vielmehr: in die Erklärungen des Glaubens). Die von Steel richtig gefolgerte Verwendung der Philosophie entspringt tatsächlich ihrer funktionalen Anwendung (und ändert nichts daran, dass die patristischen und mediävistischen Theologen erst in einer christlichen Philosophie die wahre Erkenntnis wie auch ein richtiges Verstehen Platos zu finden glaubten). Gerade das führt zu spezifisch mittelalterlichen Vorstellungen. Wenn Steel sicher richtig feststellt, Augustin habe die Unterschiede zu Plato minimiert, dann hat der Kirchenvater eben nur das genutzt, was seinen Erklärungen dienlich war. Eine wirkliche Entpaganisierung sieht Steel erst bei Boethius gegeben, der eigentlich gar kein christlicher Philosoph war. Erst die Scholastik habe die Identifizierung von Philosophie und Religion aufgegeben. Doch auch darüber wird man ebenso streiten können wie über die Formulierung, Aristoteles sei an die Stelle Platos getreten.
Dass dem nicht so ist, zeigt der Beitrag von Henryk Anzulewicz zu "Albertus Magnus über die Philosophi theologizantes", der zu Recht betont, dass die Aristotelesrezeption seit dem 12. Jahrhundert keineswegs einen Bruch mit Plato bedeutet. Vorrangig aber wird hier herausgearbeitet, wie schwer sich Philosophen wie Albert mit der Bewertung ihrer heidnisch-antiken Vorläufer taten. Aristoteles hat die Bewegungsursachen als Prinzip des Naturprozesses richtig erkannt, aber eben nicht Gott als der wahren Ursache und auch nicht einer Entstehung aus dem Nichts zugeschrieben. Damit wurden zugleich "Rationalitätsstandards" der Theologie als Wissenschaft geschaffen. Solche Ansichten hat Albertus allerdings nicht neu begründet; sie sind letztlich seit Augustin herrschende Lehre. Zuvor geht John Marenbon ("A Problem of Paganism") anhand von Dantes Vergil in der Hölle dem Umgang mit den heidnischen Autoren der Antike und der Frage ihrer Heilsaussichten nach. So wird etwa der Christenverfolger Trajan in der Trajanlegende in einer langen, von Gregor dem Großen über Abaelard bis zu Dante reichenden Reihe, mit sich wandelnden Argumentationen, zum Christen stilisiert.
Wenn Marie-André Wagner ("Le cheval dans les croyances germaniques entre paganisme et christianisme"), aus ganz anderer Perspektive, Spuren eines Fortwirkens der sakralen Stellung des Pferdes im Rahmen der germanischen Religion, die sich auch in Wahrsagungen und Pferdebestattungen äußert, im christlichen Mittelalter nachgeht und - zu Recht sehr vorsichtig - unter anderem auf Pferdesymbolik in der Magie verweist, dann bleiben solche Hinweise nicht nur recht vage, sondern es misst wohl auch zu sehr an einem 'Idealzustand', denn nicht 'das Pferd', sondern nur ganz besondere Pferde wurden nach Ausweis der (späteren, vorwiegend zudem auf die Slawen bezogenen) Schriftquellen zu Orakeln verwendet.
Während Brigitte Meijns ("Martyrs, Relics and Holy Places") anhand der Hagiographie den Prozess der Christianisierung auf dem Lande am Beispiel des Erzbistums Reims verfolgt und hier die Vielgestaltigkeit der Rolle lokaler Märtyrer und ihrer Kirchen betont - damit allerdings keinen unmittelbaren Beitrag zum Bandthema leistet -, geht Edina Bozoky ("Paganisme et culte des reliques") dem hagiographischen Topos der durch das Blut der Heiligen belebten Vegetation am Heiligengrab nach. Heiligenviten, eigentlich eine Plattform gegen das Heidentum, greifen mit diesem Motiv heidnische Traditionen auf, um damit die Lebenskraft des Heiligen zu beweisen. Heidnisches wirkt auch im Wetterzauber nach: Rob Meens ("Thunder over Lyon") glaubt mit guten Argumenten, dass Agobard von Lyon in seiner Schrift über die "tempestarii" mit diesem Begriff im 9. Jahrhundert nicht mehr heidnische, sondern christliche Priester bezeichnet, die das Volk mit ihren Beschwörungen vor Stürmen bewahren sollen. Das wäre ein schönes Beispiel für ein unterschwelliges Nachwirken des Heidnischen, das von Agobard in diesem Fall allerdings als nichtchristlich erkannt und folglich bekämpft wird.
Ganz anders gelagerten Motiven gehen die spätmittelalterlichen Beiträge von Robrecht Lievens und Stefano Pittaluga nach. Lievens ("The 'pagan' Dirk van Delf) verfolgt heidnische Motive im niederländischen Werk und in der Malerei des Dominikaners Dirc van Delf am Ende des 14. Jahrhunderts, zum Beispiel bei der Darstellung der Kardinaltugenden oder Amors. Pittaluga ("Calimaco Esperiente e il paganesimo") sieht in den Epigrammen und Gedichten des 1468 der Verschwörung gegen Papst Paul II. beschuldigten Filippo Buonaccorsi alias Callimacho Esperiente, die auf antike Autoren (vor allem Ovid) zurückgreifen, den Ausdruck einer "scienza pagana". Beide Beiträge bewegen sich damit im Rahmen antikisierender Tendenzen der beginnenden bzw. bereits der Hochrenaissance. Allerdings wäre zu fragen, wie weit das dabei zwangsläufig rezipierte Heidnische in den christlichen Kontexten tatsächlich bewusst als solches verstanden und verwendet wurde.
Einen interessanten Aspekt steuert der letzte Beitrag von Anna Akasoy ("Paganism and Islam") bei, die der islamischen Einstellung gegenüber Heiden in der mittelalterlichen, arabischen Literatur aus Westafrika nachgeht und das mit dem frühislamischen Hintergrund einleitet, demzufolge Heidentum im Gegensatz zu den Schriftreligionen verboten war. Heidentum wurde daher immer wieder auch als Vorwand etwa für Sklaverei genutzt, aber kaum genauer charakterisiert. Wenn Heiden - so das Ergebnis - als negatives Stereotyp für verschiedene Religionen kaum näher spezifiziert wurde oder lediglich einen vergangenen Zustand betraf und wenn Heiden als (zu bekehrende) Barbaren und Glaubensfeinde, im Kampf jedoch auch als "edle Wilde" betrachtet wurden, dann zeigen sich zumindest auf dieser allgemeinen Ebene deutliche Parallelen zum christlichen Heidenbild des Mittelalters.
Die Beiträge behandeln jeweils eigene, oft auch 'randständige', aber durchweg interessante Aspekte des Fortlebens, Nachwirkens und der Rezeption heidnischer Motive, ohne sich zu einem Ganzen zusammenzufügen, da sie insgesamt verschiedenen Perspektiven nachgehen. Fast alle Beiträge haben den Rezensenten zum Nachdenken, manche auch zum Widerspruch vor allem dort provoziert, wo manches zu sehr "von außen" betrachtet erscheint, dadurch aber in beiden Fällen bewiesen, wie anregend sie sind. Über das - zuletzt mehrfach vernachlässigte - Heidentum im Mittelalter und sein Fortleben im Christentum wird man noch weiter nachdenken und dabei sorgsam zwischen unbewusst Rezipiertem, bewusst Eingesetztem und als heidnisch Zurückgewiesenem differenzieren müssen.
Hans-Werner Goetz