Notker Hammerstein: Aus dem Freundeskreis der »Weißen Rose«. Otmar Hammerstein Eine biographische Erkundung, Göttingen: Wallstein 2014, 152 S., 22 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1384-2, EUR 19,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Hans-Christian Harten: Himmlers Lehrer. Die Weltanschauliche Schulung in der SS 1933-1945, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014
Uwe Danker / Astrid Schwabe (Hgg.): Die NS-Volksgemeinschaft. Zeitgenössische Verheißung, analytisches Konzept und ein Schlüssel zum historischen Lernen?, Göttingen: V&R unipress 2017
Peter Longerich: Hitler. Biographie, München: Siedler 2015
Jens-Christian Wagner (Hg.): Zwischen Verfolgung und "Volksgemeinschaft". Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus, Göttingen: Wallstein 2020
Volker Ullrich: Adolf Hitler. Die Jahre des Aufstiegs, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2013
Notker Hammerstein: Res publica litteraria. Ausgewählte Aufsätze zur frühneuzeitlichen Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, hrsg. v. Ulrich Muhlack / Gerrit Walther, Berlin: Duncker & Humblot 2000
Veronika Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens. die Reformen Herzog Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha und ihre Auswirkungen auf Frömmigkeit, Schule und Alltag im ländlichen Raum (1640-1675), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2002
Warum ist eine Lebensgeschichte erzählenswert? Weil sie exemplarisch für eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe, für eine Geisteshaltung oder für eine Epoche steht? Weil sie besonders ist? Oder weil sie nicht nur von einem Leben Zeugnis ablegt, sondern auch von dem anderer? Letzteres lässt sich für all jene (Auto-)Biographien feststellen, die über den "Freundeskreis" der Widerstandsgruppe "Weiße Rose" erzählen. [1] Dazu ist auch die hier zu besprechende Arbeit zu rechnen, die der Historiker Notker Hammerstein über seinen Bruder Otmar verfasst hat. Das schmale Büchlein ist eine Mischung aus Biographie, eigener Lebenserinnerung und Auseinandersetzung mit der Erinnerung an den Widerstand in der Bundesrepublik. Damit knüpft Hammerstein an all jene Darstellungen über den Widerstand der "Weißen Rose" an, die von Angehörigen verfasst wurden und die sich jeweils auch als Annäherung an die eigene Familiengeschichte verstehen lassen. [2]
Die Biographie beginnt deshalb auch nicht mit Otmar, dem eigentlichen Protagonisten der Lebenserzählung, sondern mit Notker, der der Biographie seines Bruders einige grundsätzliche Überlegungen zum NS-Regime und den Möglichkeiten und Formen des Widerstands voranstellt. Diese bilden dann gleichzeitig das Fundament für die darauffolgende Interpretation der Lebensgeschichte Otmars. Notker Hammerstein rekurriert dabei einerseits auf die Vorstellung vom allmächtigen NS-Staat, der Widerstand zu einem von vorneherein aussichtslosen Unterfangen machte, was auch allen bewusst war, sodass Widerstand keine Option schien. Andererseits arbeitet Hammerstein aber auch heraus, dass in den bildungsbürgerlichen Milieus durchaus resistentes oder sogar widerständiges Verhalten entstehen konnte, indem der gemeinsame Werte- und Bildungskanon als Abgrenzung vom NS-Regime interpretiert wurde. Notker Hammerstein erzählt die Geschichte seines Bruders und der "Weißen Rose" deshalb als Vergemeinschaftung über diese bildungsbürgerlichen Gemeinsamkeiten.
Otmar Hammerstein (1917-2003) stammte aus einer literarisch und musikalisch interessierten Familie. Der Vater, August Hammerstein, war Lehrer und vermittelte seinen Kindern einen umfassenden Bildungskanon. Dem NS-Regime stand er von Beginn an kritisch gegenüber und gab diese Einstellung wohl auch an seinen Sohn Otmar weiter. Dennoch entschloss sich Otmar zunächst zum Medizinstudium in einer Studentenkompanie der Wehrmacht, da ihm dies der vielversprechendste Weg schien, zum gewünschten Studienfach zugelassen zu werden. Seit dem Wintersemester 1939/40 setzte er sein Studium in München fort. Notker Hammerstein geht in seiner Darstellung sehr ausführlich auf die Kreise ein, in denen Otmar sich in München bewegte, vor allem den Bach-Chor sowie verschiedene private Kammermusik- und Literaturzirkel. Er kann zeigen, wie sich dort Otmars Wege mit denen Hans Scholls, Christoph Probsts, Willi Grafs und Alexander Schmorells kreuzten, die später wegen ihrer Beteiligung am Widerstand der "Weißen Rose" zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden.
Offen bleibt jedoch, wie genau und ab wann Otmar Hammerstein in die Widerstandsaktionen der "Weißen Rose" eingeweiht wurde und wie tief er tatsächlich in den Widerstand involviert war. Auch seine Motive bleiben weitgehend im Dunklen. Nach der Aufdeckung der Widerstandsgruppe am 18. Februar 1942, als Hans und Sophie Scholl dabei überrascht wurden, wie sie im Lichthof der Universität München Flugblätter verteilten, fühlte Otmar Hammerstein sich nicht mehr sicher. Er erreichte eine schnelle Versetzung nach Amsterdam. Allerdings geriet er auch dort kurzzeitig wegen seiner möglichen Verbindung zur "Weißen Rose" in den Fokus des SD, blieb jedoch in der Folgezeit unbehelligt. In Amsterdam erhielt Otmar Hammerstein über Freunde Kontakt zum holländischen Widerstand, insbesondere zur Gruppe um den Bildhauer Gerrit van der Veen. Kurz vor Kriegsende desertierte er und schloss sich ganz dem holländischen Widerstand an. Nach dem Krieg blieb Otmar Hammerstein in Amsterdam und war dort als Psychologe tätig. Nach Deutschland kehrte er nur zu Besuchen bei seiner Familie zurück.
Über die "Weiße Rose" äußerte er sich zeitlebens kaum, ebenso wenig über seine Aktivitäten im holländischen Widerstand. Dennoch kann Notker Hammerstein zeigen, dass die Erfahrung von Widerstand und Krieg die Biographie seines Bruders Otmar nachhaltig prägte. Vor allem seit den 1970er- und 1980er-Jahren unterhielt Otmar Hammerstein Kontakt zu Familienangehörigen und Überlebenden der "Weißen Rose", insbesondere zu Hubert Furtwängler. In zum Teil ausführlich zitierten Briefen tauschten sich Otmar Hammerstein und Hubert Furtwängler über ihre Erinnerungen an den Widerstand aus. Sie versuchten, vor allem die Flugblattverteilung vom 18. Februar 1943, die zur Zerschlagung der "Weißen Rose" geführt hatte und auch ihren Lebensweg beeinflusst hatte, besser zu verstehen. An den öffentlichen Debatten über die Widerstandsgruppe wollte Otmar Hammerstein sich jedoch nie beteiligen. Die Gründung der "Weiße-Rose-Stiftung" in den 1980er-Jahren beurteilte er kritisch und blieb ihren Aktivitäten fern. Die Erinnerung an die "Weiße Rose" war für ihn privat und im Grunde nur mit denen teilbar, die Hans Scholl und die anderen Beteiligten gekannt und die Ereignisse miterlebt hatten.
Notker Hammerstein erzählt die Geschichte seines Bruders nicht in einer stringenten zeitlichen Folge, sondern mit zahlreichen Exkursen zu Einzelpersonen und Ereignissen und mit teilweise großen chronologischen Sprüngen. An manchen Stellen wird regelrecht sichtbar, wie der Autor sich selbst bremsen und zum Hauptstrang seiner Erzählung zurückfinden muss. Insofern tritt der Autor häufig wesentlich deutlicher in der Rolle des empathischen (Familien-)Biographen auf als in der des analysierenden Wissenschaftlers. Dadurch wird das Buch über weite Strecken mehr zu einem quellengestützten Erinnerungsbericht als zu einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Untersuchung über den Widerstand gegen das NS-Regime. Das genau aber macht den Charme dieses Buches aus, das mit viel Herzblut und stellenweise großer Detailkenntnis geschrieben ist. Die Forschung zur "Weißen Rose" ergänzt die Biographie vor allem dort, wo es um die nachträgliche Einordnung und Bewertung des Widerstands durch die Überlebenden geht. Dieser Aspekt ist immer noch zu wenig beleuchtet, was auch auf die teilweise unbefriedigende Quellenlage zurückzuführen ist. Hier ist zu wünschen, dass Notker Hammerstein seine am Ende des Buches geäußerte Absicht verwirklicht, den Nachlass seines Bruders Otmar an ein öffentliches Archiv abzugeben und so der Wissenschaft zugänglich zu machen. Die im Buch zitierten Dokumente lassen jedenfalls auf so manche Neuentdeckung hoffen.
Anmerkungen:
[1] Lilo Fürst-Ramdohr: Freundschaften in der Weißen Rose, München 1995.
[2] Exemplarisch Inge Scholl: Die weiße Rose, Frankfurt a. M. 1952 [und zahlreiche weitere Auflagen].
Christine Friederich