Sebastian Zanke: Johannes XXII., Avignon und Europa. Das politische Papsttum im Spiegel der kurialen Register (1316-1334) (= Studies in Medieval and Reformation Traditions; Vol. 175), Leiden / Boston: Brill 2013, XXIII + 418 S., ISBN 978-90-04-25898-3, EUR 129,00
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Auch Päpste haben Konjunkturen. Derzeit erfreut sich Johannes XXII. (1316-1334) einer bemerkenswerten Aufmerksamkeit innerhalb der Forschung - und dies nicht nur (wie eigentlich zu erwarten wäre) auf französischer, sondern auch auf deutscher Seite. Nachdem vor zwei Jahren eine Aufsatzsammlung zum Thema "Jean XXII et le Midi" erschien [1], spürte jüngst ein Sammelband den Konzepten und Verfahren seines Pontifikats nach. [2] Zusätzlich beschäftigte sich eine Studie monographisch mit seinem Vorgehen gegen Kirchenfeinde im italienischen Raum. [3] Nun legt Sebastian Zanke mit seiner Untersuchung der kurialen Registerüberlieferung unter Johannes XXII. nach.
Drei gewichtige Bände in nur einem Jahr: weshalb richtet sich der Blick derzeit verstärkt auf diesen nicht sonderlich gut beleumundeten Avignon-Papst? Bereits die aragonesischen Gesandten am päpstlichen Hof beklagten in den 20er Jahren des 14. Jahrhunderts seine Verschlossenheit, sein sprunghaftes, mitunter aggressives Wesen und auch die erhaltenen Viten zeichnen alles andere als ein schmeichelhaftes Bild eines Papstes, dem die deutsche Forschung vor rund hundert Jahren noch Cäsarenwahnsinn bescheinigte. [4] Politisch geschickt freilich war er, Protagonist einer Vielzahl hoch bedeutender Ereignisse, die das 14. Jahrhundert prägen sollten. In England hatte er auf die Absetzung und Ermordung eines Königs, in Frankreich auf einen Dynastiewechsel zu reagieren. Im Reich machte ihm das Gegenkönigtum Ludwigs des Bayern zu schaffen, kirchenintern ging er aufs Schärfste gegen die allenthalben auftauchenden Häresien vor. Seine (kirchen-)politischen Maßnahmen entfalteten sich nicht zuletzt auch auf der Grundlage einer sich immer weiter vervollkommnenden administrativen Maschinerie mit einer wohlgeordneten Registerführung. Vor diesem Hintergrund müsste die Frage eigentlich lauten: weshalb hat es so lange gedauert, bis dieser Pontifikat wieder ins Bewusstsein der Forschung rückte?
Im Mittelpunkt der vorliegenden Studie, einer in Augsburg entstandenen Dissertation, steht das politische Wirken Johannes' XXII. ausgehend von den innerhalb der päpstlichen Register nachweisbaren Relationen von Kurie und europäischen Regionen. Es ist vornehmlich der "Blick nach außen" (199), der in dieser komparativ ausgerichteten, politikgeschichtlichen Studie interessiert, bieten die Register doch nur recht oberflächlich Einblick in das Geschehen am päpstlichen Hof selbst. Für ausgewählte Pontifikatsjahre wird der Stellenwert einzelner Räume im kurialen Alltagsgeschäft ermittelt "und eine relative Raumwahrnehmung (an) der Kurie eruiert." (XV) Erkenntnisleitend ist dabei die Frage, wie und durch wen die Wahrnehmung von Konflikträumen an der Kurie geprägt und die Politik in partibus beeinflusst wurde. Deutlich wird sehr schnell, dass es vornehmlich die päpstlichen Gesandten und Amtsträger vor Ort, weniger die Vertreter des lokalen Klerus waren, die in den päpstlichen Registerserien den europäischen Kommunikationsraum konstituierten.
Die Studie ist in fünf Kapitel gegliedert: 1. Prämissen: Überlieferung, Quellenkritik und methodische Überlegungen (1-38), 2. Kurie und Milieu: Avignon im Pontifikat Johannes' XXII. (39-73), 3. Kurie und Politik: Tendenzen der kurialen Raumwahrnehmung (75-204), 4. Päpstliche Politik im Raum: Wahrnehmung, Strukturen und Wirkung (205-327), 5. Ein vergleichender Blick: Päpstliche Politik zwischen Paris, Gent und Neapel (329-367). Ein Anhang mit Grafiken und Tabellen (darunter: Amtsträger in den Kirchenprovinzen nach Reg. Vat. 112 und 114, 377-379), ein Quellen- und Literaturverzeichnis (381-408) und ein Register der Orts- und Personennamen (409-418) schließen sich an.
Die Quellenlage lässt kaum zu wünschen übrig: Über 60.000 Schreiben entstanden in 18 Pontifikatsjahren und sind in den zentralen Serien der Kommun-, Kurial- (de curia) und Sekretregister überliefert. Vor allem die Sekretregister sind für die politische Raumwahrnehmung der Kurie zentral und erfahren eine umfassende quantitative Auswertung: in den Blick geraten vor allem die Sekretregister der Jahre 1323/1324 (8. Pontifikatsjahr mit dem beginnenden Prozess gegen Ludwig den Bayern) und 1327/1328 (11. Pontifikatsjahr mit den Thronwechseln in England und Frankreich): genauer geht es um 1004 Einträge (in 1319 Ausfertigungen) im 8. Pontifikatsjahr und 1146 Einträge (gerichtet an 1558 Empfänger) im 11. Pontifikatsjahr, in deren Zentrum wenig überraschend italienische und französische Räume und Angelegenheiten stehen. Die ermittelten Zahlen erheben letztlich nicht den Anspruch auf eine absolute Wertigkeit, vermitteln aber mitunter bemerkenswerte Tendenzen: Angesichts der politischen Ereignisse in England erstaunt das kuriale Desinteresse in den Jahren 1327/1328. Die britischen Inseln rücken in diesen Jahren mit nur 1-2% der Einträge klar an die Peripherie. Diese Zurückhaltung bedarf einer Erklärung: Zanke ist sicherlich darin zuzustimmen, dass der anglo-französische Konflikt und die Absetzung Edwards II. "als ein zusammengehöriger Konfliktraum" (123) wahrgenommen wurden. Und wahr ist sicherlich auch, dass die Kurie mit Blick auf England "an mangelnder Informationsqualität" (125) litt. Die Vermutung, ausbleibende päpstliche Stellungnahmen könnten auch mit einer "gewissen Akzeptanz" (125) der Ereignisse in England zusammenhängen, hat etwas für sich, wird zukünftig aber noch zusätzlicher Untersuchungen bedürfen, um tatsächlich verifiziert werden zu können. Politische Strukturveränderungen am englischen Königshof sind über die päpstlichen Register nur schwer zu eruieren: aus kurialer Sicht ist beispielsweise von der faktischen Herrschaft eines Regentschaftsrats mit dem dominierenden Roger Mortimer an der Spitze nichts zu erkennen. England spielt in Zankes Untersuchung trotz der im Vergleich mit Italien und Frankreich geringen Anzahl registrierter Schreiben eine - erfreulich - große Rolle. Der Blick auf die sog. Pembroke-Gesandtschaft, eine mindestens 62 Personen umfassende Gruppe, die sich Anfang 1317 in offiziellem Auftrag auf den Weg nach Avignon machte und dort über Fragen des englischen Lehnseides und vieles mehr verhandelte, offenbart die enorme Bedeutung von Unterhandlungen an der Kurie einerseits, verweist andererseits aber auch auf eine päpstliche Reaktion, die durchaus klassisch zu nennen ist und in der Entsendung einer Legation mit den beiden kardinalizischen Schwergewichten Gaucelme de Jean und Luca Fieschi bestand. Zanke lotet mit Blick auf Persönlichkeiten wie Adam Orleton, den späteren Bischof von Winchester, oder William Montagu, ab 1337 Earl of Salisbury, die Tragfähigkeit personeller Beziehungsnetze aus und zeigt, wie stark diese Personen die kommunikativen Netze zwischen der Kurie und Westminster dominierten.
An einigen Stellen gelingt es Zanke, bisherige Forschungspositionen zu differenzieren und die fehlende Stringenz im "Agieren" eines Papstes, der sich "nicht an politische (oder theologische) Traditionen gebunden" sah (372), als das zu interpretieren, was es tatsächlich wohl auch war: ein bloßes Reagieren. Dies ergibt sich zwangsläufig aus der Analyse der Registerüberlieferung: die Qualität päpstlicher Beziehungsnetze (und das davon abgeleitete Reagieren) aber allein auf die überlieferte Korrespondenz zu gründen, greift entschieden zu kurz - dies ist auch Zanke klar. Deshalb hätte man sich doch etwas mehr an Informationen über die Bedeutung informeller Kanäle (insbesondere mit Blick auf England) gewünscht. Die prosopographischen Erkenntnisse zu Ratgebern und Gesandten im Umfeld der europäischen Höfe, deren Kontakte an die Kurie die Politik der Zeit maßgeblich mitbestimmten, gehören jedoch zu den Partien, auf die man zukünftig zurückgreifen wird.
Sprachlich hält die Arbeit leider nicht immer, was sie inhaltlich-methodisch verspricht. Über die inflationäre Verwendung relativierender Füllwörter - "gleichsam" und "gewisser/gewisse" sind Lieblingswörter, deren Vorkommen im unteren dreistelligen Bereich anzusiedeln sein dürfte - liest man irgendwann resignierend hinweg. Gleichwohl lassen Satzgebilde der Art: "Die eigentümliche Verhandlung an der Kurie änderte tatsächlich in gewisser Weise die inhaltliche Ausrichtung der päpstlichen Politik, wobei in den Raum gestellt werden kann, ob die Geldzahlungen hierbei einen gewissen Beitrag geleistet haben mögen" (253) den Leser doch einigermaßen ratlos zurück. Völlig unverständlich ist das Lob einer Publikation, die als "akribische Arbeit" (xxii) charakterisiert wird, tatsächlich aber wohl - die Rezensenten sind sich hier doch recht einig - als weitestgehend gescheitert angesehen werden muss. Weshalb aus dem im 13. Jahrhundert nach England entsandten Legaten Guala Bicchieri ein "Guela" wird, vermag man ebenso wenig nachvollziehen wie die Nichterwähnung der maßgeblichen Quellenedition von Nicholas Vincent. [5]
Summa summarum: eine Arbeit, die auf solider Kenntnis der vatikanischen Überlieferung die Rolle des Papsttums unter Johannes XXII. im europäischen Raum beleuchtet und hierbei durchaus zu neuen Erkenntnissen gelangt; eine Arbeit, die man wohl eher für einzelne Themenbereiche konsultieren als in Gänze durcharbeiten wird.
Anmerkungen:
[1] Erschienen als Bd. 45 (2012) der Cahiers de Fanjeaux.
[2] Hans-Joachim Schmidt / Martin Rohde (Hgg.): Papst Johannes XXII. Konzepte und Verfahren seines Pontifikats (Scrinium Friburgense; 32), Berlin / Boston 2014.
[3] Sylvain Parent: Dans les abysses de l'infidélité. Les procès contre les ennemis de l'Église en Italie au temps de Jean XXII (1316-1334), Rom 2014.
[4] Vgl. Karl Wenck: Acta Aragonensia, in: Historische Zeitschrift 122 (1920), 90-104, 94.
[5] Nicholas Vincent (ed.): The Letters and Charters of Cardinal Guala Bicchieri, Papal Legate in England 1216-1218, Woodbridge 1996.
Ralf Lützelschwab