Insa Meinen / Ahlrich Meyer: Verfolgt von Land zu Land. Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938-1944. Unter Mitarbeit von Jörg Paulsen, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2013, 332 S., ISBN 978-3-506-77564-1, EUR 39,90
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Tanja von Fransecky: Flucht von Juden aus Deportationszügen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden, Berlin: Metropol 2014, 398 S., ISBN 978-3-86331-168-1, EUR 24,00
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Ahlrich Meyer: Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940-1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000
Dass die Vernichtungslager im östlichen Teil von Europa lagen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch andere Länder, über die das "Großdeutsche Reich" während des Zweiten Weltkriegs herrschte, vom NS-Regime in die Shoah einbezogen wurden. Seit dem Westfeldzug zählten hierzu die westeuropäischen Länder. Sie wurden ab Mai 1940 nicht nur für die Jüdinnen und Juden, die hier eingebürgert waren, zur Falle, sondern auch für diejenigen, die erst vor kurzem vor dem Terror des NS-Regimes hierhin geflüchtet waren. Neben der Segregation, behördlichen Erfassung, Beraubung, Konfinierung und Internierung vor Ort gehörten seit 1942 auch in Frankreich, Belgien und den Niederlanden Deportationen zu den Mitteln, mit denen die Nationalsozialisten die "Endlösung der Judenfrage" im genozidalen Sinne bewerkstelligen wollten. In letzter Zeit hat in diesem Zusammenhang die Frage an Bedeutung gewonnen, wie die Betroffenen auf die vielfältigen Formen der Verfolgung reagiert haben und inwieweit ihnen Hilfe zuteil wurde. [1] Für die westeuropäischen Länder liegen hierzu nun zwei Studien vor, die Versuche der jüdischen Bevölkerung analysieren, der existenziellen Bedrohung durch das NS-System zu entkommen.
In Verfolgt von Land zu Land stellen Insa Meinen und Ahlrich Meyer Belgien in den Mittelpunkt, jenes Land also, das im Gegensatz zu den Niederlanden oder zur Schweiz bis zum Vorabend des Westfeldzugs jüdischen Flüchtlingen in der Regel eine Einreise ermöglichte und sogar illegal eingereisten Personen ein zumindest temporäres Bleiberecht gewährte. Für ihr Thema lassen sich im Großen und Ganzen drei Phasen unterscheiden, in denen die Überlebensmöglichkeiten der Betroffenen sukzessive eingeschränkt wurden. Zunächst geht es um die Fluchten von Jüdinnen und Juden aus Deutschland und Österreich bis zum 10. Mai 1940, deren Anzahl besonders nach der "Reichskristallnacht" drastisch zunahm. In diesen Teil der Untersuchung sind übrigens Tausende von polnischen und staatenlosen Juden eingeschlossen, die zuerst vor Antisemitismus in ihrem Heimatland und später vor der Verfolgung im Deutschen Reich nach Belgien geflohen sind. Daran schloss sich der Zeitraum zwischen dem Westfeldzug und dem Beginn der systematischen Deportationen im Sommer 1942 an. Die letzte Phase umfasst die Fluchtbewegungen, mit deren Hilfe Jüdinnen und Juden ab 1941/42 in allen besetzten westeuropäischen Ländern dem drohenden Genozid zu entkommen versuchten. Insgesamt gehen Meinen und Meyer davon aus, "dass sich im Zeitraum zwischen 1938 und 1942 ein neuer Typus von Flüchtlingen herausgebildet hat, deren erzwungene Migration mit der Radikalisierung der Judenverfolgung und dem Übergang zur Vernichtungspolitik zusammenhängt". (10) In der Tat stellte die Judenverfolgung durch das NS-Regime, die in ihrer Brutalität und in ihrem Umfang präzedenzlos war, für die jüdische Bevölkerung wie auch für die Nachbarländer des Deutschen Reiches eine neuartige Herausforderung dar. Wie sich vor diesem Hintergrund Fluchtgeschichte darstellt, wird von den beiden Autoren unter qualitativen und quantitativen Gesichtspunkten analysiert.
Die Ergebnisse ihrer Forschungen beruhen auf einer Fülle an biographischen Gegebenheiten und Daten, die Meinen und Meyer dank ihrer langjährigen Beschäftigung mit diesem Themenfeld [2] in mühsamer Kleinarbeit zusammengetragen haben. Dass aufgrund der prekären Quellenlage in vielen Einzelfällen offene Fragen bleiben, ist jedem bewusst, der schon einmal (kollektiv-)biografische oder prosopografische Forschungen zur Judenverfolgung unternommen hat. Doch ungeachtet von quellenbedingten Unschärfen und Dunkelziffern ist das Bild, das Meinen und Meyer zeichnen, überzeugend. Die rechtlichen Rahmenbedingungen, die finanziellen und sonstigen materiellen Bedingungen, die Unterstützung durch Hilfsorganisationen oder "Schlepper", die Beschaffung von gefälschten Ausweispapieren, Fluchtrouten, legale und illegale Grenzübertritte oder der Versuch, innerhalb von Frankreich über die Demarkationslinie von der besetzten in die unbesetzte Zone zu gelangen, und natürlich Chancen und Gefahren, die für jeden Einzelnen mit der Flucht verbunden waren - all dies wird eingehend untersucht. Dabei berücksichtigt das Autorenduo auch die Besetzung der "freien Zone" in Südfrankreich durch die deutsche und italienische Armee im November 1942 oder die Tatsache, dass die Schweiz ausgerechnet mit Beginn der Deportationen im Sommer desselben Jahres für Juden ihre Grenze schloss. Etwas blass bleibt lediglich das weitere Schicksal derer, die dem deutschen Machtbereich entfliehen konnten. Wie erging es den Juden, die aus Frankreich, Belgien oder den Niederlanden in die Schweiz, nach Spanien oder nach Portugal entkamen?
Während Meinen und Meyer ihren Fokus auf Belgien richten, nimmt Tanja von Fransecky gleichermaßen Belgien, Frankreich und die Niederlande in den Blick. In ihrer Berliner Dissertation widmet sie sich speziell den Fluchten und Fluchtversuchen aus Zügen, mit denen Jüdinnen und Juden aller Altersstufen in der Besatzungszeit aus diesen Ländern in die Vernichtungslager im Osten deportiert wurden. Einige Fluchtgeschichten werden knapp, andere recht ausführlich behandelt. In etlichen Fällen kann die Autorin neben umfangreichen Archivbeständen und aufgezeichneten Zeitzeugeninterviews von Dokumentationszentren Gespräche auswerten, die sie selber zwischen 2006 und 2009 geführt hat. Die Vergleichbarkeit zwischen Frankreich, Belgien und den Niederlanden wird dadurch erleichtert, dass die Kapitel zu den drei Ländern identisch aufgebaut sind: An die Skizzierung der jeweiligen Ausgangslage schließt sich eine überblicksartige Darstellung der Geschichte der Deportationen an; anschließend werden einzelne Fluchten rekonstruiert. Im Unterschied zu ihrer Beschäftigung mit Frankreich und den Niederlanden beschränkt sich Fransecky bei Belgien, wo die meisten Fluchten unternommen wurden, auf ausgewählte Beispiele. Hier sticht der 20. Transport vom 19. April 1943 hervor: Dieser Deportationszug war der einzige, auf den Angehörige des Widerstands einen Anschlag verübten. [3]
Allgemein kommt Fransecky zu dem Ergebnis, dass Fluchten aus Deportationszügen in der Regel für das Territorium der westeuropäischen Länder geplant wurden. Nur selten kam es zu Fluchten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches, "denn sie galten wegen der als feindlich eingeschätzten Bevölkerung als gefährlich. Aber auch in den deutsch besetzten Ländern Europas war die Flucht aus einem Deportationszug lebensgefährlich. Viele [...] wurden vom Zug erfasst und zerquetscht, andere verletzten sich beim Sprung aus dem schnell fahrenden Zug schwer. Die meisten Flüchtenden starben, weil die Wachmannschaften von der Schusswaffe Gebrauch machten. Viele, die aus dem Zug fliehen konnten, wurden einige Zeit später erneut aufgegriffen" (10) - und meist bald darauf wieder deportiert.
Aus den untersuchten Beispielen destilliert Fransecky schließlich strukturelle und situative Momente heraus, die Einfluss auf die Flucht von Jüdinnen und Juden hatten. Zu den strukturellen Momenten gehören ihr zufolge die bisherigen Verfolgungserfahrungen, der Organisationsgrad der jüdischen Flüchtlinge, das Wissen oder Ahnen um die Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung und Kenntnisse von Fluchten aus Deportationszügen, die von Erfolg gekrönt waren. Auch die Nähe bzw. Ferne von Sammellagern wie Westerbork, Mecheln oder Drancy zur Reichsgrenze sowie Qualität und Typ des jeweiligen Deportationszuges konnten für Erfolg oder Scheitern eines Fluchtversuchs entscheidend sein. Zu den subjektiven Momenten rechnet Fransecky moralische Bedenken gegenüber den zurückgelassenen Familienangehörigen oder Mitreisenden sowie das Verhalten aller Personen, die in einem Waggon oder Zugabteil der drohenden Vernichtung entgegenrollten. Auch die Frage, ob man die eigene Flucht als Zeichen von Widerstand sah, konnte für die subjektive Motivierung von Belang sein. Im Einzelnen mag Frankseckys Zuordnung diskutabel sein. Die Frage nach dem Wissen um die Shoah etwa könnte man mit guten Gründen als ein Moment ansprechen, das die Entscheidung zu einer Flucht eher individuell als strukturell beeinflusste. Umgekehrt ist der Befund, dass unter denjenigen, die aus Deportationszügen flüchteten, nur 14 Prozent weiblich waren, ein struktureller Aspekt. Wie auch immer - das Bündel an fluchtrelevanten Momenten macht auf einer analytischen Ebene die Motive, Verhaltensweisen und Techniken vergleichbar, mit denen die Betroffenen den Weg aus den geschlossenen, oft plombierten Waggons in die Freiheit suchten. Dabei verliert Fransecky nicht aus dem Auge, dass jede einzelne Flucht ein lebensgefährliches Wagnis darstellte, dessen existenzielle Dimension mit wissenschaftlichen Mitteln kaum angemessen zu erfassen ist.
In beiden Büchern werden allgemeine Ausführungen immer wieder durch die Darstellung von Einzelschicksalen illustriert und erhalten dadurch zusätzliche Plausibilität. Beide Publikationen stellen organisierte und individuell durchgeführte Fluchten oder Fluchtversuche vor. Sowohl Meinen und Meyer als auch Fransecky betten ihren Schwerpunkt, also das Schicksal der betroffenen jüdischen Bevölkerung, in die Darstellung von Verfolgungsstrategien und -maßnahmen der deutschen Besatzungsmacht und von einheimischen Dienststellen und Kollaborateuren ein. Und beide Bücher kommen zu dem Ergebnis, dass die Bereitschaft oder auch die Möglichkeit zur Flucht in Belgien und Frankreich größer war als in den Niederlanden. So ergänzen sich die beiden Studien hervorragend. Sie zeigen übereinstimmend, dass Fluchten unabhängig von ihrem Ausgang oft den einzigen Versuch darstellten, Deportation und Ermordung zu entgehen. Auch wenn es in den meisten Fällen um nichts anderes als ums nackte Überleben ging, plädiert Fransecky zusammenfassend dafür, Fluchten als Teil von jüdischem Widerstand zu betrachten. Mit dem Begriff "Fluchtwiderstand" (352) schreibt sie Fluchten die Bedeutung zu, den gigantischen ethnischen "Säuberungen" des NS-Regimes getrotzt zu haben.
Mit dem Thema Flucht greifen Meinen, Meyer und Fransecky ein Problem auf, das in der NS-Forschung noch nicht hinreichend aufgearbeitet worden ist. Auch in politischer Hinsicht gibt es Grund, sich mit diesem Thema verstärkt auseinander zu setzen. Zum einen irritiert, dass noch heute in Heidenheim (Baden-Württemberg) ein Platz nach Friedrich Degeler benannt ist, der als Oberleutnant der Schutzpolizei nachgewiesenermaßen bei mindestens zwei Deportationszügen nach Auschwitz Transportführer war (Fransecky, 304). Und in Afrika oder im Nahen Osten werden Migrationsströme auch in Zukunft Politik, Wirtschaft und Gesellschaft beschäftigen. Im Fall der IS-Milizen haben wir es sogar mit einem fanatischen Vernichtungswahn gegenüber religiöser Devianz zu tun, der trotz aller Unterschiede erschreckende Parallelen zum rassistisch motivierten Verfolgungswahn des NS-Regimes aufweist. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen der letzten Zeit stellen Meinen und Meyer zu Recht fest: "Dass Menschen Grenzen überwinden müssen, um zu überleben, ist zu einem globalen Problem geworden." (10) Spätestens die Lektüre der beiden Bücher zeigt, dass die Erfahrungen mit der NS-Zeit dem wirtschaftlich und politisch stabilen Teil der Welt besondere Verantwortung auferlegen.
Anmerkungen:
[1] Verwiesen sei besonders auf die siebenbändige Reihe "Solidarität und Hilfe für Juden während der NS-Zeit" (Berlin 1996 bis 2004) und den Überblicksartikel von Andrea Löw: Widerstand und Selbstbehauptung von Juden im Nationalsozialismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 64 (2014), Heft 27, 25-31. Speziell für die Situation in Westeuropa sind aufschlussreich Bob Moore: Survivors. Jewish Self-Help and Rescue in Nazi-Occupied Western Europe, Oxford 2010; Jacques Sémelin: Persécutions et entraides dans la France occupée. Comment 75 % des juifs en France ont échappé à la mort, Paris 2013. Zu Moores Buch siehe die Rezension von Katja Happe, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 4 [15.04.2012], URL: http://www.sehepunkte.de/2012/04/20182.html
[2] Siehe unter anderem Ahlrich Meyer: Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940-1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung, Darmstadt 2000; ders.: Das Wissen um Auschwitz. Täter und Opfer der "Endlösung" in Westeuropa, Paderborn u. a. 2010; Insa Meinen: Die Shoah in Belgien, Darmstadt 2009 (dazu meine Rezension in: Historische Zeitschrift, Bd. 291, Dezember 2010, 866 f.); Ahlrich Meyer / Insa Meinen: Transitland Belgien. Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa während der Zeit der Deportationen 1942, in: Theresienstädter Studien und Dokumente 14 (2007), 378-431.
[3] Der Überfall auf den 20. Transport ist schon mehrfach untersucht worden. Nicht zuletzt die frühere Spiegel-Redakteurin Marion Schreiber widmete ihm mit dem Buch "Stille Rebellen. Der Überfall auf den 20. Deportationszug nach Auschwitz" (Berlin 2000) eine Monografie, für die sie noch etliche Zeitzeugen hatte befragen können.
Johannes Koll