Ahlrich Meyer: Das Wissen um Auschwitz. Täter und Opfer der "Endlösung" in Westeuropa, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, 238 S., ISBN 978-3-506-77023-3, EUR 29,90
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Ahlrich Meyer gehört seit langem zu der kleinen Zahl deutscher Historiker, die sich mit der Verfolgung der Juden in den besetzten westeuropäischen Staaten beschäftigen, wobei sein Fokus vor allem auf Frankreich gerichtet ist. Sein aktuelles Buch "Das Wissen um Auschwitz" schließt an sein 2005 erschienenes Werk "Täter im Verhör" an, in dem er sich eingehend mit Verhörprotokollen als Quellengrundlage auseinandersetzte. Im neuen Buch "Das Wissen um Auschwitz" erweitert er seinen Analysegegenstand nun um die Perspektive der Opfer.
Auch im "Wissen um Auschwitz" bilden Verhörprotokolle der Täter eine wichtige Quellenbasis. Hier werden ihnen jedoch nicht Dienstakten gegenüber gestellt, um die Entscheidungsprozesse, die zur Verfolgung der Juden in Frankreich führten, herauszuarbeiten. Die neue Studie geht einen anderen Weg. Verhörprotokolle von Tätern aus ganz Westeuropa werden mit Zeugenaussagen von Opfern kontrastiert, mit dem Ziel, Schlüsse über das Wissen der Täter und Opfer von der Endlösung der Judenverfolgung zu ziehen und dieses Wissen zeitlich einzuordnen. Im Laufe der Studie verändert Ahlrich Meyer jedoch seine Zielsetzung und seine Fragestellung. Das erschwert es, seinen Argumentationen zu folgen; der rote Faden des Buches scheint nicht nur dem Leser immer wieder aus der Hand zu gleiten. Allerdings bemüht Meyer sich um eine sehr präzise Sprache, wirft neue Fragen auf und fokussiert seine Analyse auf die grundsätzliche Problematik, die ihn eigentlich umtreibt: Warum hat das Wissen um die Vorgänge in Auschwitz weder das Verhalten der Täter noch das der Opfer grundlegend verändert? Warum hat niemand etwas dagegen getan?
Diese Frage kristallisiert sich aber erst im Laufe der Untersuchung heraus. Im ersten Teil steht zunächst das Wissen der Täter in Westeuropa im Mittelpunkt von Meyers Interesse. Wie war es darum bestellt und aus welchen Quellen wurde es gespeist? Meyer entlarvt die Verteidigungsstrategien der Täter, die sich auf ihre angebliche Unwissenheit beriefen und offizielle nationalsozialistische Sprachregelungen und Tarnvokabeln verwendeten. Anhand mehrerer biografischer Studien arbeitet er minutiös die "Fiktion des Nichtwissens" (77) heraus. Eine Sonderstellung nimmt dabei der Befehlshaber der Sicherheitspolizei in den Niederlanden, Wilhelm Harster, ein, der als einziger Täter ein Geständnis über sein Wissen ablegte. Das Problem des Umgangs mit Erinnerungen und der Zweckgebundenheit der Aussagen zu Prozesszwecken ist Meyer dabei stets präsent. Manchmal fragt man sich jedoch, warum einige Thesen intensiver als andere diskutiert werden und besonders auf die Untersuchung von Aussagen Wert gelegt wird, deren Funktion als Schutzbehauptung offensichtlich erscheint. Dennoch ist der erste Teil eine spannend zu lesende Studie, an deren Ende Meyer die Frage aufwirft, warum die Täter und mit ihnen ein großer Teil des deutschen Volkes keine Konsequenzen aus dem Wissen zogen, welches sie besaßen, und sich damit dem eigentlichen Kernproblem seiner Arbeit nähert.
Im zweiten Teil wird dieselbe Frage hinsichtlich der Opfer gestellt. Aber auch hier bildet das Wissen der Täter den Ausgangspunkt. Nach einer intensiven Diskussion des Begriffs des "Zeugen" werden Nachkriegsaussagen von Überlebenden dahin gehend analysiert, was die Täter den Opfern bei ihrer Verhaftung und ihrem Abtransport in die Lager im Osten über ihr weiteres Schicksal mitteilten und welche Schlüsse die deportierten Juden daraus zogen. Als Fallbeispiel dient die Deportation der belgischen Juden aus dem Durchgangslager Mechelen, die Niederlande und Frankreich werden ausgespart. Ein Verdienst des Buches liegt sicher darin, die Aussagen der Zeugen nicht lediglich als Darstellungsmittel für den Zweck des Buches zu gebrauchen, sondern ihre Geschichten zu erzählen. Wie die Täter erhalten die Opfer in diesem Teil ein Gesicht und werden als Individuen mit ihrer eigenen Geschichte wahrgenommen. Entlang der Etappen der Deportation (Verhaftung, Aufenthalt in Mechelen, Abtransport und Ankunft in Auschwitz) wird deutlich, dass die Drohungen der Täter und das Wissen der Täter und Opfer im Laufe der Zeit und im Zuge der räumlichen Annäherung an Auschwitz immer größer wurden.
Die Strategien zur Täuschung der Opfer wurden immer weniger gebraucht und wichen immer offenerer Kommunikation über das Kommende. Am Ende des Kapitels jedoch, bei der Ankunft in Auschwitz, gerät die Frage nach dem Wissen der Täter in den Hintergrund. Nun steht das Wissen der Opfer im Mittelpunkt. Inwieweit war ihnen klar, was sie in Auschwitz erwartete und warum verleugneten oder ignorierten sie in vielen Fällen dieses Wissen?
Das dritte Kapitel greift diese Fragen auf und analysiert sie anhand von zeitgenössischen Quellen. Es bildet damit einen Kontrast zur Analyse der Zeugenaussagen nach dem Krieg, doch auch an diese Quellen stellt Meyer dieselben Fragen.
Vollends von seiner Ausgangsfrage nach dem Wissen der Täter und Opfer in Westeuropa entfernt sich Meyer im letzten Kapitel über die "Grenzen des Wissens" (181). Er beschreibt die Versuche von Angehörigen des Sonderkommandos in Auschwitz, ihr Wissen für die Nachwelt zu dokumentieren und zu bewahren. Hierbei geht es schon längst nicht mehr um das Wissen der Täter in Westeuropa. Es geht auch nur noch am Rande um das Wissen der Opfer (zumal der aus Westeuropa). Meyer zieht vielmehr das Fazit aus seiner eigentlichen Frage nach den Handlungen und den Konsequenzen, die sich aus diesem Wissen sowohl für die Täter als auch die Opfer ergaben. Weder die einen noch die anderen änderten aufgrund ihres Wissens ihr Handeln. Die "Endlösung der Judenfrage" vollzog sich unabhängig vom Wissen der Beteiligten und weder das Wissen der Täter noch das Wissen der Opfer änderte etwas daran.
Ahlrich Meyer geht im Verlauf seines Buches weit über das in Titel und Einleitung avisierte Ziel hinaus. Während des Lesens erscheint es oft schwierig, der Argumentation Meyers zu folgen, der sein Thema und seine grundsätzlichen Fragen eher umkreist als konsequent verfolgt. Erst in der Rückschau wird deutlich, dass es sich um ein analytisch sehr intensives Ringen um das Verstehen der Prozesse handelt, die zur Vernichtung der Juden führten.
Katja Happe