Ahlrich Meyer: Täter im Verhör. Die "Endlösung der Judenfrage" in Frankreich, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, 470 S., ISBN 978-3-534-17564-2, EUR 79,90
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In der Täterforschung zu den Verbrechen des Nationalsozialismus haben sich seit mehreren Jahren Verhörprotokolle aus Nachkriegsprozessen und -verfahren als eine ernst zu nehmende Quellengattung etabliert. Die vorliegende Studie des emeritierten Politikprofessors Ahlrich Meyer stellt eben jene Quellengattung in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung über den Holocaust in Frankreich. Dabei wird vor allem ein großer Quellenbestand aus dem Bundesarchiv Ludwigsburg herangezogen: Unterlagen zu Nachkriegsverfahren gegen ehemalige Angehörige der deutschen Militärverwaltung und des Polizeiapparats aus dem besetzten Frankreich. Meyer geht es in seiner Studie explizit nicht darum, diese Verhörprotokolle mit den zeitgenössischen Dienstakten - vorrangig aus dem Pariser Centre de Documentation Juive Contemporaine - zu einer "einzigen Erzählung" (300) zusammenzuführen. Vielmehr werden die Quellengattungen einander gegenübergestellt. Das Resultat ist eine gelungene Studie, die dem Leser die Komplexität der Judenvernichtung vor Augen führt und gleichzeitig die späteren Erklärungs- und Entschuldigungsmuster der Täter analysiert. Meyers Buch ist demnach mehr als "nur" die erste große deutschsprachige Monografie zur "Endlösung" in Frankreich.
Die zentrale These Meyers, dass die Selbstentlastung vieler Täter, "von Auschwitz erst nach dem Krieg gehört" zu haben, "einen realen Kern in der Unvorstellbarkeit des Geschehens hatte" (7), mag auf den ersten Blick überraschen. Im Laufe seiner Darstellung liefert der Autor jedoch eine profunde Analyse und Beweisführung. Entscheidend für die Wahrnehmung des Holocaust durch die daran beteiligten deutschen Besatzer in Frankreich war zum einen die Aufteilung der Kompetenzen in der Judenverfolgung auf verschiedene Besatzungsinstitutionen, namentlich auf die Militärverwaltung, den Polizeiapparat und die - von Meyer etwas vernachlässigte - Deutsche Botschaft in Paris. Zum anderen gab es innerhalb der einzelnen Besatzungsinstitutionen ein derart hohes Maß an Arbeitsteilung, dass Beamte oder Militärs selbst in höherer Position nicht immer den Überblick über den Gesamtzusammenhang ihrer Tätigkeit besaßen. So konnten sich die Täter im Nachhinein auf die heterogene Struktur des Besatzungsapparats und die verwirrende Vielfalt der Zuständigkeiten berufen. Die Verlagerung des Mordgeschehens in die Konzentrationslager des deutsch besetzten Osteuropa ab Frühjahr 1942 rückte die grauenhaften Verbrechen für die Besatzer im Westen zudem in weite Ferne. "Der vollkommene Mangel an Schuldbewusstsein" in den Reihen der Täter "lässt erahnen, wie die Dinge geschehen konnten" (66), konstatiert Meyer daher überzeugend.
Der Autor zeigt weiterhin auf, dass verschiedene Entlastungsaussagen einstudiert waren, und ordnet diese bestimmten Kategorien zu (306-336). Während einige Täter im Nachhinein von den Judendeportationen nichts gewusst, gehört oder gesehen haben wollten, schoben andere die Verantwortung auf französische Behörden. Wieder andere behaupteten, die Deportationen innerlich abgelehnt zu haben, während eine kleine Minderheit selbst nach dem Krieg noch ihre Taten mit dem Hinweis auf eine jüdische Beteiligung in der Résistance zumindest für begründet hielt. Interessant ist in diesem Zusammenhang unter anderem die Tatsache, dass die Aussagen der ehemaligen Besatzungseliten homogener waren als diejenigen von Angehörigen des mittleren oder einfachen Dienstes. Teilweise bekleideten die einstigen Besatzungseliten in der frühen Bundesrepublik hohe Ministerialämter oder waren in anderen Bereichen gesellschaftlich wieder fest etabliert, was ihnen interne Absprachen von Entlastungsstrategien erleichterte. Niedrigeren Chargen hingegen war später ein derartiger Gedankenaustausch nicht möglich.
Zu Meyers Studie lassen sich jedoch auch einige Kritikpunkte anbringen. Zwar diskutiert Meyer ausführlich den Quellenwert der Verhörprotokolle (299-306); die zeitgenössischen Dienstakten werden aber nicht einer derartigen Überprüfung unterzogen, sondern weithin als Träger der historischen Wahrheit akzeptiert. Auch stellt Meyer die Zuständigkeiten der deutschen Dienststellen hinsichtlich der Partisanenbekämpfung im Frühjahr und im Sommer 1944 zu undifferenziert dar, da kaum zwischen Verbrechen der Wehrmacht und Verbrechen der Sipo und des SD unterschieden wird. Auch wenn die Beteiligung der Militärverwaltung an der "Endlösung der Judenfrage" in Frankreich außer Frage steht, fällt Meyers Urteil über "die" Wehrmacht zu einseitig aus. So lässt sich am Beispiel der Begleitkommandos von "Judentransporten" in den Osten eindeutig erkennen, dass die Militärverwaltung, als das Wissen über den Holocaust an Boden gewann, sich immer mehr aus "Judenfragen" heraushielt. Meyer erkennt diesen Sachverhalt (235-237 und 282), verzichtet aber auf eine genauere Diskussion dieses wichtigen Befundes. Völlig übersehen wird von Meyer, dass sich der Militärbefehlshaber in Frankreich und der Oberbefehlshaber West im Sommer 1944 mit Erfolg gegen eine Deportation aller noch in Paris verbliebenen Juden stellten.
Diese kritischen Anmerkungen können den Wert von Meyers Studie allerdings nur teilweise einschränken. Das Buch liefert einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Erforschung von NS-Tätern und kann bereits jetzt als Standardwerk zur Judenvernichtung in Frankreich betrachtet werden.
Peter Lieb