Detlev Mares / Dieter Schott (Hgg.): Das Jahr 1913. Aufbrüche und Krisenwahrnehmungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs (= Bd. 65), Bielefeld: transcript 2014, 280 S., div. s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-2787-9, EUR 27,99
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Durch das Jubiläum des Ersten Weltkrieges ist auch die Vorkriegszeit und insbesondere das letzte Friedensjahr in letzter Zeit verstärkt in den Blick gerückt. Florian Illies und Charles Emmerson haben es mit populären Bestsellern vorgemacht, jetzt folgt das wissenschaftliche Nachhutgefecht. [1] Das Jahr 1913. Aufbrüche und Krisenwahrnehmung am Vorabend des Ersten Weltkrieges heißt der vorliegende, aus einer Ringvorlesung an der Technischen Universität Darmstadt hervorgegangene Band.
Fast alle Beiträge nehmen diesen Titel ernst und finden ein Ereignis zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 1913, bei dem sie ansetzen können: Jürgen Reulecke (Jugend) das Treffen der Freideutschen Jugend auf dem Hohen Meißner, Friedemann Schmoll (Umwelt) die erste Weltnaturschutzkonferenz in Bern, Walter Mühlhausen (SPD) die Feier zum 50. Jahrestag der Gründung der sozialdemokratischen Partei, Noyan Dinçkal (Sport) die Einweihung des Deutschen Stadions in Berlin und Werner Durth (Architektur) das Erscheinen von Karl Schefflers Polemik "Die Architektur und die Großstadt". Birte Förster bewegt sich mit dem Völkerschlacht-Jubiläum sowieso auf sicherem Boden. Andere Beiträge haken bei dem 1913 von David Sarason herausgegebenen Buch "Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung" ein, so etwa Elke Hartmann, die über die nationalistische Griechenland-Rezeption und Angelika Schaser, die über die Frauenbewegung schreibt. Etwas schwieriger haben es da schon Dieter Schott und Christof Dipper in ihren Beiträgen über die Stadt respektive die Moderne.
Allerdings bleiben die wenigsten Beiträge im Jahr 1913 stehen. Vielmehr verstehen sie sich alle als "'Tiefenbohrungen', die die Widersprüchlichkeiten der Zeit an einzelnen Phänomenen und Prozessen aufzeigen und dabei die Narrative von Modernität und Krise am konkreten Beispiel auf ihre Tragfähigkeit hin überprüfen" möchten. (12) Konkret heißt das allerdings, dass die meisten Texte auch in einem Sammelband über das Kaiserreich erschienen sein könnten (nur vereinzelt geht der Blick über den Krieg hinaus). Nun kann man sich bei Sammelbänden immer über die Auswahl der Themen streiten, hier fällt diese jedoch deutlich konservativ aus. Von den neueren Ansätzen und Themen, die in den letzten Jahren die Forschung zum Kaiserreich bewegt haben, findet sich wenig. Hätte es im Jahr 1913 nicht auch Ansatzpunkte gegeben, um etwas über Homosexualität, Körper, Wissenschaft oder Medien zu sagen? Auch gibt es kaum etwas von dem, was es bei Illies fast nur gab: Kultur. Umso erfreulicher ist es dagegen, dass mit der Umwelt und dem Sport zwei Bereiche berücksichtigt wurden, die sonst oft unter den Tisch fallen.
Anders als bei Emmerson und, weniger ausgeprägt, bei Illies führt die Verengung der zeitlichen in dem vorliegenden Band nicht zu einer Weitung der räumlichen Perspektive. Wo Emmerson von Metropole zu Metropole springend eine Welt in der Globalisierung zeigt, fällt dieser sonst omnipräsente Begriff hier nur in der Einleitung. Überhaupt könnte man, von wenigen Seitenblicken abgesehen, leicht das Gefühl bekommen, das Jahr 1913 habe sich allein in Deutschland abgespielt. Worauf viele der Beiträge dagegen ausgehend von der deutschen Situation abheben, ist der in nahezu allen Bereichen - Architektur, Sport, Arbeiter-, Jugend-, Umwelt- und Frauenbewegung - zu findende Konflikt zwischen Nationalismus und Internationalisierung. In diesem Drama war der Erste Weltkrieg - das Zusammenkommen vieler Nationen zur gegenseitigen Abschaffung - Höhepunkt und letzter Akt. Sinnbildlich für die Ambivalenzen der Moderne könnte das von Werner Durth erwähnte Glashaus stehen, das Bruno Taut für die Kölner Werkbund-Ausstellung entwarf und das bis heute als eines der frühesten expressionistischen Bauwerke gilt. Als 1914 das Militär das Gelände übernahm, wurde es der Artillerie für Zielübungen überlassen: moderne Waffen gegen moderne Kultur.
Am Ende fragt man sich unwillkürlich, an welches Publikum sich dieser Band richtet. Für Historikerinnen bietet er wenig Neues, für die breite Öffentlichkeit scheint er zu wenig von dem zu besitzen, das Illies' - auch hier wieder kritisiertes - Buch am Ende vielleicht zu recht zum Bestseller machte: Originalität, Stil und Humor. Immerhin gelingt es den einzelnen Beiträgen, Brücken zueinander zu schlagen und so übergeordnete Themen von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten. Dass dennoch kein Gesamtbild des Jahres 1913 entstehen will, liegt möglicherweise an diesem Jahr selbst, das nicht wissen konnte, aber, diesem Eindruck kann man sich auch hier nur schwer entziehen, ahnte, dass die Widersprüche der Moderne in die Katastrophe führen würden.
Anmerkung:
[1] Florian Illies, 1913: Der Sommer des Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2012; Charles Emmerson, 1913: The World Before the Great War, London 2013.
Tobias Becker