Harald Haarmann: Das Rätsel der Donauzivilisation. Die Entdeckung der ältesten Hochkultur Europas (= Beck'sche Reihe; 1999), München: C.H.Beck 2011, 288 S., 101 Abb., ISBN 978-3-406-62210-6, EUR 16,95
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In dem hier zu besprechenden Buch behandelt Haarmann, ein mittlerweile seit ziemlich genau 45 Jahren tätiger Sprachwissenschaftler [1], die Donauzivilisation, eine auf dem Balkan angesiedelte Hochkultur, die zwischen dem 6. und dem 4. Jahrtausend v.Chr. bestand und sich durch "so manche Überraschung und etliche Rekorde im weltweiten Vergleich" (11) auszeichnet, darunter das früheste feststellbare Ziffern- und Schriftsystem der Weltgeschichte.
In sieben Kapiteln stellt Haarmann alle wissenswerten Eigenschaften und Charakteristika dieser frühen Hochkultur zusammen.
Das erste Kapitel (Der Übergang zum Neolithikum in Europa (ca. 7500-5500 v.Chr.), 13-52) widmet sich der Vorgeschichte: Wie gelangte der Ackerbau von Anatolien nach Europa? Durch die Migration von anatolischen Ackerbauern über eine (heute nicht mehr existente) Landbrücke von Kleinasien nach Europa. Vorgestellt werden zudem die fünf unterschiedlichen Regionalkulturen der Donauzivilisation.
Im zweiten Kapitel (Auf den Spuren der Alteuropäer, 53-80) stellt Haarmann die Frage, welche Quellen sich überhaupt für die Existenz der Donauzivilisation ausmachen lassen. Neben den Erkenntnissen der Humangenetik und archäologischen Funden werden hier ausgiebig die sprachlichen Zeugnisse verwertet. Geboten werden Spuren etwa aus den Begrifflichkeiten folgender Themenbereiche: Pflanzen, Tiere, Landschaftsformen sowie Nutzpflanzen und Verwandtes (so zu den Themenfeldern Wein und Brot).
Das dritte Kapitel (Wirtschafts- und Lebensraum, 81-112) rekonstruiert einerseits das Wirtschaftsleben der Donauzivilisation, darunter vor allem die Handelskontakte, sowie andererseits die Architektur anhand der archäologischen und terminologischen Überreste.
Im vierten Kapitel (Handwerk und Kunst, 113-146) werden Handwerk und Kunsthandwerk behandelt. Untersucht werden insbesondere Weberei, Keramik und Metallverarbeitung.
Der Gesellschaft der Donauzivilisation gewidmet ist das fünfte Kapitel (Das Modell einer egalitären Gesellschaft, 147-158). Nach Haarmann handelt es sich um eine egalitäre Gesellschaft ohne jegliche Hierarchie, in der eine Gleichberechtigung beider Geschlechter mit matrifokalen Elementen bestand. Auch auf den Handel wird hier nochmals eingegangen, nun in seiner Bedeutung als Möglichkeit, Ansehen in der Gesellschaft zu erlangen.
Thema des sechsten Kapitels (Religion und Mythologie, 159-179) ist das religiöse Leben der Donauzivilisation. Haarmann stellt hierin den archäologischen und terminologischen Quellenbestand vor und bemüht sich um eine Rekonstruktion der nur indirekt zu ermittelnden Kultpraktiken.
Das siebte Kapitel (Zählen, Messen, Registrieren, 181-190) stellt das Ziffernsystem, den Kalender sowie die Maß- und Gewichtseinheiten der Donauzivilisation vor. Damit verbunden ist das achte Kapitel (Die Erfindung der Schrift, 191-224), in dem sich Haarmann mit dem Schriftsystem, aber auch mit den Beschreibstoffen und ermittelbaren Textarten auseinandersetzt.
Im neunten Kapitel (Niedergang und Erbe der Donauzivilisation (ab ca. 4500 v.Chr.), 225-255) schildert Haarmann den Prozess des Endes der Donauzivilisation: Durch den wachsenden Einfluss der Steppennomaden und damit einhergehende Wandlungen wie die anwachsende Bedeutung von Hierarchien endet die Donauzivilisation in ihrer eigentlichen Form. Hierin setzt sich Haarmann auch intensiv mit der Nachwirkung der Donauzivilisation auf spätere Kulturen auseinander.
Im Epilog (257-265) zeigt Haarmann das vielfältige Nachleben der Donauzivilisation bis in die heutige Zeit und übergeht es dabei nicht, auf die ebenfalls vorhandenen Fehldeutungen mit vor allem nationalistischem Hintergrund hinzuweisen.
Mit einer Eigenheit von Haarmanns Buch dürfte sich nicht jeder anfreunden können: Der Autor setzt sich mit verschiedenen Forschungsmeinungen auseinander und bietet auch erwägenswerte Argumente für die Widerlegung mancher Gegenmeinung. Allerdings neigt er nach Ansicht des Rezensenten dazu, öfter von sicherem Grund auszugehen, als dies vertretbar ist. Schon der konventionelle Althistoriker, der sich der Erforschung der antiken Griechen und Römer widmet, sieht sich trotz einer erheblich besseren Quellenlage mit zahlreichen Fragen konfrontiert, die bislang noch nicht zufriedenstellend gelöst sind (und das vielleicht auch niemals werden). Um wie viel mehr muss das dann für die hier behandelte Vor- und Frühgeschichte gelten.
Ein Beispiel sei herausgegriffen: Haarmann weist 153-154 darauf hin, dass zwar keine Brandspuren, die auf die Zerstörung einer gesamten Siedlung hinweisen, belegt sind, wohl aber solche, die auf die beabsichtigte Zerstörung einzelner Häuser deuten. Dass dieser Befund nicht auf kriegerische Handlungen zurückgehen kann, wie Haarmann richtig erkennt, ist nicht zu bestreiten. Seine Erklärung lautet, dass als Folge des Todes des letzten Vertreters einer Sippe deren Ende durch die Zerstörung des Hauses rituell bestätigt wird. Das ist durchaus möglich, doch wäre nicht ebenfalls eine Option, dass es sich etwa um eine Form von Strafe für besonders schwere Verbrechen handelt? Eine sichere Antwort auf diese Frage wird jedoch nicht möglich sein, da über die rechtshistorisch relevanten Aspekte der Donauzivilisation offenbar nichts bekannt ist.
Auch fiel auf, dass Haarmann ein ausgesprochen positives Bild der Donauzivilisation aufweist und daher immer wieder zu einer gewissen Idealisierung neigt. Wenn er aber einerseits betont, dass es sich um eine Gesellschaft von Gleichen ohne jegliche Hierarchie gehandelt hat (149), dann aber feststellt, es sei "eine bestimmte Differenzierung zu erkennen, die zwar nicht auf Hierarchisierung, aber doch auf die Verteilung und Zuweisung natürlicher Autorität anspielt" (156), fragt man sich doch, wo denn der große Unterschied sein soll.
Die Leistung Haarmanns besteht darin, dass ihm ein gut lesbares und nie langweilig werdendes Buch gelungen ist. Selbst wenn man nicht mit ihm übereinstimmt (was angesichts der Anm. 3 zitierten Replik Klimschas auch häufiger der Fall sein könnte), so sorgt dennoch der klare und verständliche Stil ebenso wie die Präsentation der verwendeten Quellen (vor allem in Form zahlreicher Abbildungen) dafür, dass ein Widerspruch nicht unnötig erschwert wird. Auch formell erweist sich das Buch als sehr sorgfältig. [2] Angesichts dessen, dass die klassische Altertumswissenschaft mehr denn je daran interessiert ist, über ihre Fachgrenzen hinauszugehen, und den Kontakt mit verwandten Disziplinen sucht, wird ein Werk wie das von Haarmann durchaus weitere Anregungen bieten können; ob daraus auch mehr werden kann, müssen weitere Forschungen zeigen. [3]
Anmerkungen:
[1] Seine Dissertation: Der lateinische Lehnwortschatz im Kymrischen, Diss. Bonn 1970. Für die Geschichte der Donauzivilisation relevante Publikationen aus seiner Feder liegen seit 1989 vor (siehe den entsprechenden Abschnitt im Literaturverzeichnis 272-273).
[2] Lediglich zwei Kleinigkeiten fielen auf: 156 heißt es "Solche Vorstellungen sind nicht aus der Luft gegriffen sind" und 38 hätte man anstelle der "DNA-Analyse" lieber die für die deutsche Sprache korrektere Form der "DNS-Analyse" gelesen.
[3] Siehe auch kürzlich Karl-Wilhelm Welwei: Das Problem der Ethnogenese im antiken Griechenland, in: Balcanica 42 (2011), 7-23, der sich in einem Korrekturzusatz (20) kurz auf Haarmann bezieht. Eine ausführlichere Kritik der Thesen Haarmanns bietet die Rezension von Florian Klimscha, in: Das Altertum 57 (2012), 146-156, die bei einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Haarmanns Buch stets parallel konsultiert werden sollte; für einige Aspekte siehe zudem die Rezension von Detlef Gronenborn, in: Damals 03/2012 (http://www.damals.de/de/19/Donauzivilisation.html?aid=189784&cp=95&action=showDetails).
Raphael Brendel